Reiseleben, Heft 8 / 1984

Der Reiseführer (oder das Reisehandbuch)

Eine Pressemitteilung in einer Fachzeitschrift mit der Überschrift "Frischer Wind bei XY-Reiseführer" und mit dem Schlußsatz "Die Texte lassen den heute bei derartigen Publikationen beliebten "frischen Wind" erkennen" erwirkte folgende Gedanken:

Die meisten Menschen verstehen unter einem Reiseführer ein Buch, das Ihnen angeben soll, was sie an bestimmten Orten oder in bestimmten Ländern besichtigen können bzw. sollen. Wer hat nicht schon selber versucht, sich an einen Reiseführer bei seinen Reisen zu halten. Aber irgendwie sind wir heute durch eine Flut von Prospekten dem guten alten Reiseführer entwöhnt, wenn wir nicht gerade ganz spezielle kulturelle Neigungen haben, für die es immer noch sehr gute Bücher gibt. Heute erfüllt diese Spezies Buch eine knappe Informationspflicht mit Adressen, Telefonnummern, Hinweisen als Ergänzung zu den bunten Broschüren, die jedes Verkehrsamt ausgibt. Bilder, Bilder und nochmals Bilder gaukeln uns eine verführerische Welt vor als billiges - weil vom Denken befreites - Illustrationsmittel. Zwei, drei Sehenswürdigkeiten sind aufgeführt, aber dieses alles wurde uns schon in den Prospekten vorgesetzt.

Deshalb sind die Sammler alter Reiseführer bzw. Reisehandbücher beneidenswerte Menschen. Sie verstehen nachzuvollziehen, wie eine Stadt oder eine Landschaft beschrieben wurde; sie stellen sich auch bei der Betrachtung - vertieft in einen Reiseführer - eine Kirche vor oder suchen ein längst verschwundenes Monument laut Plan, das der letzte Krieg oder der letzte Herrscher- oder Volkswille verbannt hat. Seitenlange Beschreibungen der Kunstgalerien oder der Baugeschichte oder der Stadtgeschichte stehen vor geistigen Augen auf - und der moderne Verleger will uns davon überzeugen, dieses sei mit heutigen Maßstäben nicht zu vergleichen.

Einen alten Reiseführer in die Hand zu nehmen, ist schon etwas Ungewöhnliches: Irgend ein Reisender muß dieses Buch vor ein, zwei Generationen oder vor 150 Jahren in der Hand gehalten haben; vielleicht war es einer der Brüder Grimm oder Wilhelm Busch oder, oder… Sie waren kulturbesessen, denn sie prägten die Kultur, und sie übertrugen ihre Gedanken auf ihre Zeitgenossen, ob freisinnig oder nicht, preußisch oder französisch, die Kulturen wurden gelebt. Dieser Atem kommt aus Reisehandbüchern, als die Postkutschen die Verbindung aufrecht hielten, als die Eisenbahnen lernten zu laufen, als die Dampfschiffe lustige Gesellschaften auf dem Rhein oder auf der Mosel zum ersten Mal beförderten. Reisehandbücher trugen gewaltig zum Verständnis anderer Länder, Menschen, Sitten und Gepflogenheiten bei - auch deshalb werden sie heute noch gesammelt, denn der Reisende bleibt immer der Botschafter seines Landes und der Reporter des besuchten Landes.

Sich vorbereiten auf Reisen kann man nach Reiseführern, wenn man Leute und Länder kennen lernen will - in heutigen Büchern werden andere Länder neben der Adresse des nächsten Verkehrsamtes meistens durch Superfotos sehr blaß dargestellt (den Niagarafall kennen wir schon vierfarbig aus der Schule!).

Die Klassiker der alten Reiseführer wie Baedeker, Meyer (Dr. Gsell - Fels, Berlepsch), Grieben, Joanne, Murray, Galignani, Ebel, Reichard werden immer beliebte Sammelobjekte bleiben, denn ihnen verdanken wir die Gedanken, die wir in unserer nüchternen Welt zusätzlich nachvollziehen können. Und es macht einfach Spaß, zu vergleichen wie z. B, eine Stadt wie Köln oder München oder Berlin anno 1820 oder 1850 oder anno 1900 ausgesehen hat.

Heute haben viel mehr Menschen Gelegenheit zu reisen als damals, nur die Vorbereitungen sollten in diesen antiquarischen Kostbarkeiten (nicht nur materiell gemeint) vertieft werden.

awh

awh: Der Reiseführer (oder das Reisehandbuch)
In "Reiseleben" Heft 8, S. 22.
(Holzminden: Ursula Hinrichsen; 1984)
ISBN 3-922293-03-4


Gesellschaft für Deutsche PostgeschichteTable of contents150 Jahre Deutsche Eisenbahnen

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