Reiseleben, Heft 9 / 1984

Schule des Reisens

Gute Lehren des Globetrotters W. Fred

(Auszug aus seinem Buch in der 2. A., o.J., um 1914)

Der Alte und der neue Baedeker

"Reiseschule" ist schon in den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts eines der vielen Bücher genannt worden, die im Knigge-Ton über das, was man damals die "Kunst des Reisens" nannte, allerhand Rationalistisches mit viel gutem Willen, aber aus recht engem Horizont mitteilen. Die wichtigsten Reiseschulen sind natürlich die Reisehandbücher gewesen, an ihrer Spitze der nie genug gerühmte Baedeker. Das Philander von Sittewald-Zitat, "Fein stille bleiben", "steten Schritt geben", "Nicht viel mitnehmen", "Tritt an am frühen Morgen und lass daheim die Sorgen!" ist als Grundmotiv den Baedekern von 1914 noch ebenso eigen wie den ersten Ausgaben. Der älteste wirkliche Baedeker, den ich in die Hand bekam, ist ein schmales, 1839 in Koblenz erschienenes, knapp 200 Seiten starkes Handbüchlein "für Reisende, die sich selbst leicht und schnell zurechtfinden wollen". Es "enthält eine Karte und den Plan des Schlachtfeldes von Belle-Alliance" und erfüllt' gut - wie seine Nachfahren - den selbst gesetzten Zweck, den Reisenden "frei zu machen", ihn zu lehren, "auf eigenen Füssen zu stehen".

Mit den Baedekern "Schweiz" und "Italien" ist dann der Ruhm dieses Buches fest begründet worden. Viele Hunderttausende aller Nationen danken diesen Männern der Familie Baedeker - die nicht eine Anonymität geworden ist, nicht ein Mythos - Belehrung, Genuss, gespartes Geld, gesparten Ärger. Wer das Reisen lernen will, muss mit Baedeker-Studien anfangen. Nur manchmal scheint es Einem heutzutage, als hätte unsere Zeit daneben einen "neuen Baedeker" notwendig.

Nein, nein, ich bin nicht undankbar gegen die guten, guten Bücher im roten Leinwandband. Manchmal wünsche ich sie mir ein wenig anders, aber ich weiss doch, wieviel jeder von uns ihnen schuldet. Sie haben uns, als wir Anfänger in der Reisetechnik waren, bei der Hand genommen, ein wenig tyrannisiert, aber doch vor vielem bewahrt und oft die Augen geöffnet; und als wir dann selbst etwas von der Kunst des Durch-die-Welt-Ziehens verstanden, sahen sie gönnerhaft, aber stets hilfsbereit und aller Aufregung künftiger Reisepläne gegenüber objektiv, vom Bücherbrett zu uns hinab und weckten Sehnsucht. Bewahrten auch vor Globetrotterhochmut: denn so gewissenhaft wie ihre Verfasser - man weiss, Baedeker ist auch eine Art Homer, Sammelbegriff für viele tüchtige Leute - hat keiner von uns, die wir nur zwei Beine haben, irgendein Land gesehen. Und so schön objektiv waren wir auch nie in Freude und Leid, Hotelärger und Abenteuerentzückung. Und noch etwas sehr Schönes danken wir diesen gelassenen, bescheidenen Reiseführern: Sie sind die besten Hilfen bei der Konstruktion von Luftschlössern. Und dass das Warten auf die nächste Reise, das Plänemachen ein Reiz ist, wenig anderen vergleichbar, wissen auch jene, die sonst sehr für die "Wirklichkeiten" sind.

Der Baedeker herrscht nun manches Jahrzehnt. Er ist darum aus einem Individuum ein Typus geworden; und wie er auf der einen Seite sich aus den literarisch anspruchsvollen und wichtigtuerischen Berichten jenes Reisenden entwickelt hat, der die Landstrasse von Wien nach St. Pölten oder die Rheinfahrt "entdeckt" hat, später jedoch seinen Wert und seine Wirkung einer schönen Unparteilichkeit und Unpersönlichkeit verdankte, indem er "nur" mitteilte, was es zu sehen gab und auf welche Weise man Mühe und Kosten sparen kann, so ist er dann wieder über sich hinausgewachsen; und die Bände der letzten Jahre geben nicht nur Wege zur Kunst, sondern sogar zu ethnologischer Erkenntnis und oft genug zur Lebensweisheit an.

Wer denkt nicht an jene Morgenstunden im Hotel, wenn der Baedeker und der Hotelportier und der Fremdenführer und die sorglich notierten Ratschläge aller Bekannten so Schweres von uns verlangen! Nun soll man herauszupfen, was "sehenswert" ist. Das Wichtigste! "Was man gesehen haben muss." Ja, was denn? Was nicht? Nach einem Renaissancehof, an dem man vorbeigegangen ist, mag man sich jahrelang dann sehnen und mag wie das Kind, dem der letzte Bissen Kuchen auf den Boden gefallen ist, den bitteren Geschmack haben, vergeblich in Italien gewesen zu sein.

Und noch eins: sich nie von der Legende, dem Schlagwort einfangen lassen. Es gibt nämlich Orte, die einen Stempel bekommen haben. Brügge ist tot, London grau, Wien still, und so fort. Es ist aber nie wahr. Nie mehr wahr. Nie für alle wahr. Nur für den wahr, der's vorher gewusst hat. Einer sagt's einmal, dann bleibt's dabei. Einer hat seine Stimmung irgendwo nicht loswerden können und, da er sie dort gelassen hat, wie man im Café seinen Stock stehen lässt, sehen die anderen, die später kommen, nur den vergessenen Stock. Denn das ist das einzige, was manchmal auf Reisen garnicht gelingen will: dass man sich selber und seinen Erinnerungen davonläuft. Und doch gehen die meisten gerade darum auf Reisen.

Zu diesen und ähnlichen Überlegungen also soll mein Baedeker helfen. Er soll sagen: Paris: Ja, vor allem sitzest du in Meudon auf der Terrasse und bummelst an der Seine entlang und kramst bei den Trödlern. London: Vor allem hetzest du dich in der City halbtot, isst dann sehr schnell einen sehr elenden "Stehlunch" und gehst abends ja nicht ins Theater. (Natürlich steht das alles irgendwie auch im guten, alten Baedeker.) Dann: er zeige den Leuten, dass es nichts Dümmeres gibt, als im fremden Lande die äußeren Dinge der Heimat zu suchen. Er lehre sie Romantik, er zeige ihnen den Glanz der Illusion. Aber, aber, - - das soll ein Buch? Ist's nicht doch so, dass diese Künste des Reisens, diese Technik des Reisens, jeder für sich selber entdecken muss? So wie wir eben alles für uns selbst entdecken müssen. Und erst dann etwas wissen, wenn's ans eigene Herz gerührt hat.

Und darum bleibt mein neuer Baedeker vorläufig ungeschrieben.

W. Fred: Schule des Reisens
In "Reiseleben" Heft 9, S. 30-31.
(Holzminden: Ursula Hinrichsen; 1984)
ISBN 3-922293-05-0


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