Reiseleben, Heft 13 / 1986

Klaus Beyrer:

Verkehrskultur der Kutschenzeit

Berlin an einem Märzabend. Man schreibt das Jahr 1843. Mit weit vernehmbarem Peitschenknall jagt ein Fiaker über das Pflaster der Spandauer Straße. Der Fahrgast drängt zur Eile. Es ist kurz vor 7 Uhr abends. Ohne Rücksicht auf die Passanten biegt der Wagen mit unverminderter Geschwindigkeit in die Königstraße ein. Halb sitzend, halb stehend, thront der Kutscher auf dem Bock, energisch zur Seite gestikulierend, was sich ihm in den Weg stellt. Erst an der Königsbrücke reißt er die Zügel zurück, um das Gefährt abrupt zum Stehen zu bringen.

Der Fahrgast springt aus dem Wagen und wendet sich raschen Schrittes, den schnaufenden Kutscher mit Felleisen und Mantelsack im Gefolge, nach rechts durch das ionische Portal des 1701 erbauten Schlüterschen Postgebäudes. Über einen schmalen Hof führt ihn sein Weg zum alten Posthaus, in dessen Erdgeschoß die Expedition des Königlichen Hofpostamtes untergebracht ist. Fieberhaft streift sein Blick den Flur entlang. Er hat sich an einer Vielzahl an Expeditions-Zimmern zu orientieren: Zum Beispiel Nummer 4 für die dienstags und freitags abgehende Post, Nummer 12 für die Mittwochspost. Der Fahrgast will nach Leipzig und von dort aus 'über Weimar nach Frankfurt am Main. Sein Reiseziel ist Paris.

Erleichtert betritt er den Raum, in dem die Leipziger Schnell Postpassagiere abgefertigt werden. Beinahe wäre er dabei mit einer auffallend hübschen, modisch gekleideten Dame zusammengeprallt, die ihn brüsk zur Seite schiebt und mit einem abschätzigen Blick stehen läßt. Das wird seine Reisebegleiterin sein, und es wird unter vorteilhafteren Bedingungen noch hinreichend Gelegenheit geben, sich während der gemeinsamen Stunden im Coupe bekannt zu machen. Der Fahrgast legt dem Postbeamten seinen Paß vor, der auf den Namen Ludwig Rellstab lautet, von Beruf Schriftsteller und Musikkritiker, Redakteur der Vossischen Zeitung, Alter 44 Jahre.

Er hat Glück. Obwohl die Meldefrist vor wenigen Minuten, Schlag 7 Uhr, abgelaufen ist und der Beamte deutliche Anstalten macht, den sogenannten Stundenzettel, auf dem die Namen der Passagiere verzeichnet sind, unter Verschluß zu bringen, läßt jener sich von einigen eher beiläufig über den Tisch geschobenen Groschen, auf die schielend, preußische Strenge milder Freundlichkeit weicht, zur Nachsicht bewegen, nicht ohne den ausdrücklichen Hinweis, daß derlei Gefälligkeiten am nächsten Morgen aber, beim Abgang der Post, nicht in Betracht kämen. Die Königlich Preußische Schnellpost dulde keinen Aufschub. Sie verlasse den Posthof pünktlich, auf die Minute genau, und müsse, wie der Beamte ergänzt, die Zeiten nach Maßgabe der eigens dafür eingeführten Kursuhren aufs Exakteste einhalten. Im Hauptwagen ist ein letzter Platz frei, und Rellstab wird, nachdem er sich eingeschrieben und das Fahrgeld entrichtet hat, darüber belehrt, daß in dem Preis für das Passagierbillet sämtliche Gebühren für Wagenmeister, Schirrmeister, Postillion und Kondukteur enthalten seien, er daher von weiteren Aufwendungen entlastet, im Gegenteil keinerlei Trinkgeld zu geben befugt sei und daß sein Handgepäck nicht mehr als 10 Pfund betragen dürfe. Für die im Coupé mitgeführten Degen und Säbel, Stöcke, Mäntel und Oberröcke könne die Anstalt keine Garantie übernehmen. Hingegen hafte sie in vollem Umfang für alle Effekten und für das mit Wertdeklarationen versehene "Passagier-Gut". Schließlich habe sich der Reisende eine Stunde vor Abgang der Post in dem Postbüro einzufinden, widrigenfalls er neben dem gebuchten Platz auch jeglichen Anspruch auf eine Rückerstattung des Fahrgeldes verwirke. Die Postanstalt sei um einen reibungslosen Ablauf bemüht, wobei es - und hier erweist sich der Beamte als sachkundiger Statistiker - im übrigen keineswegs ein Einfaches sei, jedem einzelnen der weit über 30.000 allein auf den Schnellposten in Berlin jährlich abzufertigenden Passagiere gerecht zu werden. Doch möge sich der Reisende seinerseits nicht scheuen, von den unterwegs auf allen Stationen ausgelegten Beschwerdebüchern freimütig Gebrauch zu machen.

Die Geschichte ist erfunden. Grade deshalb wäre sie ausbaufähig, etwa, indem wir Rellstab an diesem Märzabend nach Hause begleiten, wo er in vertrauter Runde bei Kerzenlicht von den Seinen Abschied nehmen wird, oder uns mit ihm am nächsten Morgen die lange Stunde zwischen 'Check-in' und dem Abgang des Verkehrsmittels dahinquälen - eine Situation, die uns ja alles andere als fremd ist. Die Expeditionsmodalitäten der Schnellpost entsprechen in vielem jenen Vorschriften, nach denen wir uns heutzutage beim Gang durch die Abfertigungshallen der Flughäfen zu richten haben.

Gewiß, niemand käme ernsthaft auf den Gedanken, eine Postkutsche neben einem computergesteuerten Düsenflugzeug ins Rennen schicken zu wollen. Angesichts der modernen Flugtechnik scheint die Kluft unfaßbar tief, die die beiden Verkehrswelten voneinander trennt. Doch könnte man damit argumentieren, daß sich im Verlauf der letzten 150 Jahre lediglich der materielle Sockel erhöht hat, an dem wir unsere Bedürfnisse orientieren, während das Verkehrsleistungsangebot, relativ betrachtet, unverändert geblieben ist. Natürlich waren schon die Postanstalten des frühen 19. Jahrhunderts stolz darauf, ihre Fahrgäste schnell, sicher und bequem zu befördern. Sie rühmten sich der Berechenbarkeit und der Zuverlässigkeit des Verkehrsmittels, das alle größeren Orte verband. Allein Preußen verfügte 1837, ein Jahr vor Eröffnung seiner ersten Eisenbahnlinie, über 182 Schnellpostkurse, die sich nahezu "gleichmäßig" über das Staatsgebiet verteilten. Gemeinsam ist diesen beiden, auf den ersten Blick grundverschiedenen Verkehrssystemen, daß sie ihren Beförderungsbetrieb auf einem jeweils hohen organisatorischen Leistungsniveau abwickeln. Und in beiden Fällen gilt es, die technische und organisatorische Ausrüstung auf die Bedürfnisse eines vergleichsweise individuellen Reisepublikums abzustimmen. Das mag mit erklären, weshalb die Königlich Preußische Schnellpost und die Lufthansa ihre Gäste gleichermaßen durch einen aufwendigen Kontrollapparat zu schleusen gezwungen sind. Daß beide Verkehrsanstalten besonders qualitative Maßstäbe setzen, indem sie, wie es bei der Schnellpost so schön hieß, den Reisenden "jegliche Sorgen" abnehmen, bedeutet stets auch die zuverlässige Ausschaltung aller nur denkbaren Störfaktoren bei der Verkehrsabwicklung. Darüber, wie der innerbetriebliche Verkehrsablauf funktioniert, machen wir uns meist keine Gedanken. Von Kind auf wurden wir daran gewöhnt, das technisch Machbare zum Maß aller Dinge zu nehmen. Freilich übersehen wir dabei den organisatorischen Kräfteeinsatz allzu leicht, der den öffentlichen Verkehrsmitteln, nebenbei bemerkt, zu einer kontinuierlichen Aufwertung verhilft. Daß man beispielsweise mit der Bahn heute schneller und bequemer reist als vor zehn Jahren, liegt weniger an PS-starken Dieselmotoren, für die ein entsprechender Schienenweg erst noch angelegt werden muß, als vielmehr an der Ausschöpfung organisatorischer Potentiale. Historisch argumentiert ist also die verkehrskulturelle Entwicklung nicht allein das Resultat technischer Erfindungen, sondern auch und zu einem Gutteil eine Frage des organisatorischen Fortschritts.

Daß dies für die einzelnen Etappen der Postverkehrsgeschichte besonders gilt, läßt sich kaum deutlicher als an der Einrichtung der hier bereits angesprochenen Schnellpostlinien belegen. Diese neue, für ihre Zeit hochentwickelte Organisationstechnik der 1821 eingeführten Eilwagen und Schnellposten brachte es mit sich, daß die Fahrzeiten auf den überregionalen Postkursen um nahezu die Hälfte reduziert werden konnten. Noch im Jahre 1820 hatte der Schriftsteller Ludwig Börne sein berühmtes Pamphlet auf die "deutsche Postschnecke" verfaßt, eine Reisesatire, die den schleppenden Verlauf einer insgesamt 40stündigen Fahrt von Frankfurt nach Stuttgart aufs Peinlichste nachzeichnete. Am 1.Mai 1822 wurde auf derselben Strecke erstmals ein Eilwagen eingesetzt, der dafür jetzt gerade 21 Stunden benötigte. Freunde und Gönner Börnes fühlten sich, wie die Anekdote es weiß, dazu hingerissen, den Republikaner als Initiator der Schnellpost zu feiern.

Das mag garnicht so weit hergeholt sein. Wer wollte schon in dieser Epoche der Restauration eine fortschrittliche Idee vom Staat erwarten, der indes in seiner Eigenschaft als "oberster Fuhrherr" für die Belange des Verkehrs verantwortlich zeichnete. Orientiert am Vorbild Frankreichs, das seit einigen Jahren im Depeschendienst seiner Malle-Posten für besonders eilige Fahrgäste einen Platz freihielt, entstand die Idee, den Personenverkehr auf die Stufe des Kurierwesens zu heben, Personen also "mit der Geschwindigkeit einer reitenden Post" zu befördern. Die Initiative ging von Preußen aus. Der preußische Geheime Postrat Schmückert hatte sich in den Kopf gesetzt, "die preußischen Briefposten dahin umzugestalten, daß sie zugleich ein vorzügliches Beförderungsmittel für Reisende gewähren". Schmückert reichte seine Denkschrift 1821 ein. Noch im selben Jahr wurde der erste preußische Schnellpost-Kurs auf der Strecke Koblenz Köln-Düsseldorf eröffnet.

Die Zeitgenossen zeigten sich überwältigt. "Die preußische Postadministrazion", so heißt es in einem Zeitungsbericht, "hat durch die Einführung der Eilwägen dem fahrenden Postwesen in Deutschland ein ganz neues (...) Leben gegeben". Und ähnlich der Tenor eines anderen Artikels: "Neu, groß und bewundernswerth ist die Reform, welche die fahrenden Posten in diesem Jahrhundert in Deutschland erhalten haben."

(Fortsetzung und Abschluß dieses Vortrages, sowie der beiden anderen Vorträge in Heft 14/1987).

Klaus Beyrer: Verkehrskultur der Kutschenzeit
In "Reiseleben" Heft 13, S. 36-39.
(Holzminden: Ursula Hinrichsen; 1986)
ISBN 3-922293-11-5


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