Reiseleben, Heft 14 / 1987

Heinrich Krohn:

Der Reisende im Zickzack - RUDOLF TOEPFFER

"Kann man Venedig schon sehen?"

Es ist der 22. August 1842. Tiefe Wolken ziehen über die Höhe des Bernina-Passes. Von Pontresina herauf windet sich ein schmaler Saumpfad, um sich weiter nach Süden hinunter ins Tal von Poschiavo zu verlieren. Ein paar hochbepackte Maultiere mit ihren Führern, Hirten von den benachbarten Almen und vereinzelt auch Touristen beleben hin und wieder den steinigen Weg. Um die Mittagszeit aber nähert sich eine größere Gruppe von Wanderern dem Paß. Nach und nach erreichen sie die weite Fläche, wo sich erstmals der Blick nach Süden öffnet. Als letzter kommt "ein kleines Touristchen von elf Jahren, das Lämmlein der Herde". Erwartungsvoll blickt der Junge zum Führer der Gruppe: "Kann man Venedig schon sehen?" Alles lacht. Seit Tagen ist dies eine beliebte Frage beim Erreichen jeder Paßhöhe, - ist die ferne Lagunenstadt an der Adria doch das Ziel des langen Marsches unserer Wanderer.

Dreiundzwanzig sind es, die sich vor nunmehr zwölf Tagen in Genf zu der großen Reise aufgemacht haben, die meisten von ihnen Schüler eines Internats, dessen Leiter Rudolf Toepffer alljährlich in den Sommerferien ausgedehnte Fußwanderungen mit seinen Zöglingen durch die Schweizer Alpen und Oberitalien unternimmt. Der Pädagoge will mit diesen anstrengenden Märschen nicht nur das Erleben von Natur und Landschaft vermitteln, er sieht darin auch einen wichtigen Beitrag zur Erziehung seiner Schützlinge. Er meint: "Gut ist es, auf die Reise außer dem Rucksack noch ein gut Teil Mut, Entschlossenheit, Heiterkeit und gute Laune mitzunehmen. Gut ist es auch, für sein Vergnügen mehr auf sich selbst und seine Kameraden, als auf die Sehenswürdigkeiten der Städte und die Wunder der Lande zu rechnen. Es ist auch nicht schlecht, sich tüchtig zu ermüden, damit einem das härteste Bett weich erscheint, und ordentlich zu hungern, damit der gute Appetit den weniger reizvollen Speisen als beste Würze dient. Mit solchen Vorsichtsmaßregeln ausgerüstet, wird man immer eine angenehme Reise machen; alle Länder erscheinen einem dann hinreichend schön, man genießt, was man hat und vermißt nicht, was man entbehrt; ist das Wetter schön, desto besser, regnet es, macht es auch nichts."

Wer war nur der Mann, der seinen Schützlingen solch einfache, doch treffliche Weisheiten vermitteln wollte? Toepffers Großvater war als Schneider Mitte des 18. Jahrhunderts vom fränkischen Schweinfurt nach Genf zugewandert und hatte sich dort niedergelassen. Dessen Sohn Adam Wilhelm Toepffer macht sich einen Namen als Maler und Karikaturist, seine Landschaften sind noch heute in manchem Schweizer Museum zu finden. 1799 wird dann Rudolf Toepffer geboren. Schon bald zeigt sich, daß er das Talent des Vaters geerbt hat. Von diesem unterrichtet, bildet er sich schon in jungen Jahren im Aquarellieren und Zeichnen aus und malt mit Vorliebe Dosenminiaturen. Alles spricht so für eine aussichtsreiche Laufbahn als Kunstmaler. Als er schließlich neunzehn ist, soll die für einen jungen Künstler obligate Italienreise die Ausbildung abrunden; ein plötzlich auftretendes chronisches Augenleiden setzt jedoch allen Zukunftsträumen ein jähes Ende. Statt in den Süden reist der junge Toepffer nun für einige Zeit nach Paris; nach der Rückkehr tritt er, jetzt zwanzig Jahre alt, als Lehrer in ein Genfer Internat ein. Seit den Tagen Rousseaus galt Genf als Ort fortschrittlicher Erziehung; von aller Herren Länder schickte man die Söhne und Töchter aus guten Familien gerne hierher in die französische Schweiz. Als dann Rudolf Toepffer 1824 heiratet, ermöglicht ihm die Mitgift seiner Frau die Gründung eines eigenen Pensionats.

Wenn nun alle Jahre im Sommer die Ferienzeit kommt, kehren die meisten seiner Schüler für einige Wochen zu ihren Familien zurück; mit den in Genf gebliebenen Zöglingen aber unternimmt Toepffer ausgedehnte Exkursionen durch die Schweizer Bergwelt. Es sind für ihn und seine Begleiter Wochen unbeschwerten Müßiggangs, - wie er aber meint, von großer Bedeutung für die Erziehung zum Leben: "Ein Mann, der nicht auch einmal zu bummeln versteht", sagt Toepffer, "gleicht einem Automaten, der nur vom Leben zum Tode rennt. Darum scheint mir ein verbummelter Sommer nicht zuviel in einer sorgfältigen Erziehung; es kann sogar sein, daß ein solcher Sommer des Müßiggangs allein nicht ausreicht, einen großen Mann zu machen." Bei diesen Wanderungen führt Toepffer täglich Tagebuch, das er durch Zeichnungen ergänzt, soweit es ihm sein vermindertes Augenlicht erlaubt. Diese bebilderten Reiseberichte werden nach der Rückkehr in der Halle des Instituts ausgelegt, zur Erinnerung für die Schüler und zur Information der zu Besuch kommenden Eltern. Toepffer gewinnt so Freude am Schreiben. Sein erster autobiographischer Roman "Aus der Bibliothek meines Onkels" erscheint dann 1832 und macht ihn als Schriftsteller bekannt. Schon vorher aber hatte er, eingedenk seines zeichnerischen Talents, begonnen, sogenannte Bildergeschichten zu verfassen. Bei diesen wird ein knapper Text von zwei oder drei Sätzen jeweils durch eine Zeichnung illustriert. Schrift und Bild ergänzen sich so in gegenseitiger Kommentierung aufs Glücklichste. Die geschlossene Handlung steht im Hintergrund; nach dem Vorbild Sternes läßt sich der Verfasser stets mehr vom momentanen Einfall leiten, dabei ganz der komischen Situation des Augenblicks verhaftet. In den "Reisen und Abenteuern des Doktor Festur" etwa tritt der Held kaum in Erscheinung; meist verschläft er in irgendeinem Versteck die grotesken Erlebnisse der übrigen Mitspieler. Ein reisender englischer Mylord samt Mylady erscheint, ein obrigkeitsbesessener Dorfschutze und ein ganzes Schock närrischer Wissenschaftler. Zwei Dorftölpel stellen die "bewaffnete Macht" dar; in stupidem Gehorsam folgen sie der entwendeten Uniform des Schulzen, die von einer der Personen zur anderen wandert; selbst als der betresste Rock alleine an einem Ast hängt, salutiert die bewaffnete Macht blindlings vor den im Winde wehenden Ärmeln. So jagen sich die Einfälle des Dichters; schließlich aber landet der auf Abenteuer ausgezogene Doktor Festur nach einem Sturz von seinem Maultier wieder im heimischen Birnbaum; ohnmächtig wird er in sein Bett getragen und die Bildergeschichte schließt: "Als der Doktor am nächsten Morgen erwacht, glaubt er die Wohnung gar nicht verlassen zu haben, und ganz in den Anblick der Morgenröte versunken, sinnt er dem schönen Traum nach, den er gehabt."

Einige dieser Bilderromane zeigen gleich auf den ersten Seiten eine Landkarte des Geschehens mit phantasievollen Namen der Länder und Grenzen, der Flüsse und Städte; ein Vergleich mit der heute jedem Asterixband vorangehenden Karte Frankreichs drängt sich auf.

Zwei dieser Bildergeschichten schickt der Künstler seinem Jugendfreund Friedrich Soret, der am großherzoglichen Hof in Weimar als Erzieher der jungen Prinzen tätig ist. Soret verkehrt oft im Hause Goethes, der den jungen Mann vor allem wegen seiner geologischen Kenntnisse sehr schätzt. Bei einem seiner Besuche nimmt Soret einen der Bilderromane Toepffers mit. Unter dem 4. Januar 1831 berichtet Eckermann in seinen "Gesprächen" hierüber: "Das Heft, welches in leichten Federzeichnungen die Abenteuer des Doktor Festur enthielt, machte vollkommen den Eindruck eines komischen Romans und gefiel Goethe ganz besonders. "Es ist wirklich zu toll!" rief er von Zeit zu Zeit, indem er ein Blatt nach dem anderen umwendete; "es funkelt alles von Talent und Geist! Einige Blätter sind ganz unübertrefflich!" Soret wendet nun ein, daß man Toepffer manchmal mit Rabelais vergleiche und ihm vorwerfe, Ideen von diesem entlehnt zu haben. "Die Leute wissen nicht, was sie wollen", erwiderte Goethe, "ich finde durchaus nichts von dergleichen. Toepffer scheint mir im Gegenteil ganz auf eigenen Füssen zu stehen und so durchaus originell zu sein, wie mir nur je ein Talent vorgekommen." Ein Jahr später bekommt Goethe auch Aquarelle Toepffers zu sehen, die, wie Eckermann berichtet, wieder sein Lob finden. Eckermann und Soret aber veröffentlichen eine günstige Besprechung der Bilderromane in Goethes Zeitschrift "Kunst und Altertum".

Toepffer fühlt sich nun ermutigt, seine Bildergeschichten, insgesamt sollen es deren nur sechs werden, zu veröffentlichen. Der Erfolg beim französischen Publikum gibt ihm recht. Er findet auch zahlreiche Nachahmer; einer seiner Helden, "Monsieur Jabot", gibt schließlich dieser neuen Art von Bilderromanen, die man in Frankreich nun "Jaboterien" nennt, den Namen. Auch in der deutschen Literatur läßt sich Toepffers Einfluß verfolgen. Bei der ersten deutschen Bildergeschichte, Adolf Schrödters 1848 erscheinenden "Taten und Meinungen des Herrn Piepmeyer", einer Satire auf die Frankfurter Nationalversammlung, läßt sich sein Vorbild nicht leugnen.

1843 gibt dann Toepffer auch die Berichte von den sommerlichen Wanderungen mit seinen Schülern in Druck: "Voyages en zigzag" nennt er die reich illustrierten Reiseschilderungen. Das französische Publikum nimmt den Band mit großer Zustimmung auf; das ganze neunzehnte Jahrhundert hindurch erscheinen immer neue Auflagen des beliebten Werkes. Ins Deutsche werden von den "Reisen im Zickzack" lediglich zwei Wanderungen übersetzt, und dies erst im Jahre 1912. Bis heute ist es die einzige Ausgabe dieser lebendigen und humorvollen Reisetagebücher geblieben; eigentlich unverständlich, wenn man bedenkt, wieviel an altgemeingültiger Erfahrung und Lebensweisheit Toepffer darin unterbrachte.

Dabei predigt der Schriftsteller seinen Lesern immer wieder die Genügsamkeit auf Reisen, die ja keineswegs die Erlebnisfähigkeit beeinträchtigt. Sich mit wenigem zu bescheiden, war freilich eine Tugend, die im Schweizer Biedermeier, wo noch keine Eisenbahn für bequemen Transport sorgte und über die meisten Alpenpässe nur karge Saumpfade führten, leicht geübt werden konnte:

"Es ist gut, ich wiederhole es, auf der Reise alles mit sich zu führen und auf nichts anderes zu rechnen: Den Sack auf dem Buckel, damit man nichts mit dem Frachtwesen zu tun hat, seine Beine, damit man den Fuhrmann nicht braucht, eine Portion Wißbegier, um überall Interessantes zu entdecken, und gute Laune, die macht, daß man in Jedem einen guten Menschen sieht."

Und Toepffer führt dann auf, was er noch alles für notwendig zum richtigen Reisen hält:

"Wenn man diesem allen noch eine Dosis Geschmack für Zeichnen oder Naturgeschichte zufügen kann, oder ein wenig Beobachtungsgabe und ein bißchen Schreiblust, dann besitzt man das nötige Gepäck, um mit Behagen eine Reise um die Welt zu machen; Bewegung, Marschieren und Jugend bilden den Rest. Jugend ist allerdings der hauptsächlichste Bestandteil; aber wie es nicht genügt, jung zu sein, um bei schlechtem Wetter heiter und gut aufgelegt zu bleiben, ebenso ist es keine Notwendigkeit für den älteren Mann, inmitten junger und mürrischer Reisegefährten ernst und nachdenklich zu erscheinen. Alles ist dazu angetan, ihn aufzuheitern, er wird an der jugendlichen Fröhlichkeit teilnehmen, sie in die rechten Bahnen lenken und dahin kommen, sich zu fragen, wie man überhaupt angenehm reisen kann, wenn man nicht von einem lebhaften, immer beweglichen Schwarm von Jünglingen umringt ist."

Einen Schwarm von Jünglingen, den hatte nun Toepffer auf seinen Wanderungen freilich immer um sich. Nehmen wir etwa die eingangs erwähnte Reise nach Venedig: Da waren von den dreiundzwanzig Teilnehmern immerhin siebzehn Schüler seines Internats, dazu kamen noch einige Freunde und schließlich auch die Frau des Verfassers.

Seinen Berichten stellte nun der Pädagoge jeweils knappe Schilderungen der Charaktere der einzelnen Reisegenossen voran. Wir erinnern uns an den jüngsten der Gesellschaft und seine Frage: "Kann man Venedig schon sehen?" Mit wenigen Worten, gleich dem Strich des Zeichners, gibt Toepffer sein Konterfei wieder:

"Siehe, da erscheint gerade das Lämmlein der Herde, ein kleines Touristchen von elf Jahren, das Kind der Truppe, das in jedem Soldaten des Regiments seinen grossen Bruder sieht. Er heißt Leonidas und man läßt ihn gehörig Thermopylen passieren. Bald springt er bei der Vorhut herum, bald schleppt er sich hinterher, durch einen großen Bruder seines Sacks entledigt, meist aber lacht er oder schläft stehend, sitzend, liegend, im Zickzack oder über Kreuz. Im übrigen fängt er Schmetterlinge und Heuschrecken, macht die Frösche nervös, wirft Butterstullen in jede Lache und studiert Sitten und Einrichtung, aber eben alles nur, wenn er nicht gerade schläft."

Daß nun der kleine Leonidas ständig mit dem Schlaf zu kämpfen hatte, nimmt nicht wunder, wenn man bedenkt, wie die täglichen Etappen der Wanderer eigentlich bemessen waren. Toepffer, der ja mit seinen Schülern von Genf nach Venedig wollte, - zu Fuß wohlgemerkt - und dafür einschließlich Rückreise nicht mehr als fünf Wochen zur Verfügung hatte, beschloß auf dem Hinmarsch nicht die langweilige Strecke über den Simplon in die oberitalienische Tiefebene zu wählen, sondern eine zwar abwechslungsreiche aber äußerst strapaziöse Route durch die Zentralschweiz. Diese führte aber über eine Fülle von Alpenpässen, wie den Col de Mosses, Grimsel, Furka, Oberalp, Bernina und Stilfserjoch. Heute überqueren wir solche Höhen flott und unbeschwert im Kraftwagen oder im Eisenbahnwaggon, dabei bequem die vorüberziehende Landschaft betrachtend. Seinerzeit aber waren diese Übergänge erst zum Teil durch Straßen erschlossen, ansonsten aber nur auf steilen Saumpfaden zu begehen. Weiter darf man nicht vergessen, daß die Gelegenheiten, die sich damals zur Übernachtung boten, nur sehr bescheiden waren. Die Vorausbestellung eines Quartiers war mangels Telefon unmöglich; da war es oft dem Zufall überlassen, für die wandermüde Gruppe wenigstens ein Strohlager zu bekommen. Da das Gepäck meist selbst getragen werden mußte, konnten auch keine großen Mengen an Lebensmittel mitgenommen werden; herb war dann freilich die Enttäuschung, wenn es am Abend oft kaum etwas zu beißen gab. Da schreibt Toepffer etwa:

"Endlich kommt das Essen, eine Suppe, eine kleine, in Stücke geschnittene Forelle, und ein kleiner Käse für jede Person. Die Portionen sind von einer unbeschreiblichen Leichtigkeit. Glücklicherweise schwimmen schon einige im tiefen Schlafe, der sie außerstande setzt, irgendetwas zu würdigen oder etwas zu äußern, sie träumen, daß sie essen, das genügt ihnen."

Betrachtet man nun die einzelnen Etappen, die unter diesen Umständen zurückgelegt wurden, so kommt man nicht umhin, die Leistung unserer Wanderer zu bewundern. Ein Beispiel: Der Marsch über den Bernina begann am frühen Morgen. In St. Moritz war übernachtet worden, nun zog man ein Stück innabwärts, um dann über Samedan und Pontresina im Aufstieg den Paß zu erreichen. Nun ging es südwärts hinunter nach Poschiavo und dann noch ein langes Stück weiter am See vorbei nach Brusio, das erst in der Dunkelheit erreicht wurde. Nicht weniger als 50 Kilometer sind das heute auf geteerter Straße; die Berninabahn braucht für die Strecke knapp zwei Stunden und mit dem Auto geht es auch nicht viel schneller. Bedenkt man außerdem, daß man vom Oberengadin zum Paß auch noch 500 Höhenmeter zu überwinden hatte und daß es von dort nach Brusio weitere 1.600 Meter hinunterging, dann muß man unseren Wanderern uneingeschränkten Respekt zollen. Kommt noch dazu, daß dies eine ganz normale Tagesstrecke war, der am Vortag die Überquerung des Juliers voranging und am übernächsten Tag bereits der Marsch über das Stilfser Joch folgte. Verglichen mit solch biedermeierlichen Fußreisen erscheinen wahrlich heutige Volksmärsche als bequeme Spaziergänge.

Was trug man nun seinerzeit bei solch ausgedehnten Fußwanderungen? Bundhose, Anorak, Trenkerhut und fürs Gepäck einen Rucksack mit Traggestell? Weit gefehlt! Toepffer hat uns in den Illustrationen zu den Zickzackreisen des öfteren ein Konterfei seiner Reisegruppe hinterlassen: Die Kleidung war einheitlich, sie scheint sich also für die damaligen Verhältnisse als zweckmäßig erwiesen zu haben. Alle Wanderer waren, wie auf den Zeichnungen zu sehen ist, mit festen Stiefeln, langen Hosen und einer Art von Überrock bekleidet, der etwa bis zum halben Oberschenkel reicht und mit einem Gürtel zusammengefaßt ist. Eine Schirmmütze schützt vor Sonne und Regen. Das Gepäck hat man in einem kleinen Reisebündel, das an einem quer über die Brust gehenden Schulterriemen getragen wird oder in einem Felltornister auf dem Rücken. Das wichtigste Requisit des zünftigen Alpenwanderers aber war damals offensichtlich eine lange Alpenstange mit eisenbewehrter Spitze, Vorläufer des Bergstocks, der ja dann noch bis in unsere Tage sein Dasein fristen sollte.

Und wenn es stürmte oder regnete? Toepffer, der Pädagoge und Lebenskünstler gewann auch dem positive Seiten ab:

"Wenn man wie wir, in großer Zahl zusammen reist, so bilden Regen, und Sturm, im Schoße der Einsamkeit und fern vom häuslichen Herd, eine Art Mißgeschick, das annähert, vereinigt und zu gegenseitiger Unterstützung aufruft. Man kennt nicht sein Ziel, man weiß nicht, wo werde ich ruhen am Abend, was wird morgen sein? - jeder hat nur einen Gedanken, das Wohl aller. Strahlt die Sonne vom Himmel herab, so läuft das junge Volk auseinander, und jeder geht einzeln seinen Neigungen nach, so wie die Ziegen am Abhang ihr Futter suchen. Wenn aber der Regen herabströmt, und der Donner grollt, dann bleibt alles hübsch beieinander, man bildet eine kleine geschlossene Gesellschaft, die einem Ziel zustrebt und - gross und klein, Kinder und Jünglinge - nur einen Wahlspruch kennt: Alle für einen, einer für alle! Und wo diese edle Devise ausgeübt wird, ist da nicht Vergnügen, findet man da nicht seine Befriedigung?"

Lebenslang sollte Toepffer unter der Verminderung seines Augenlichts, die dann in späteren Jahren auch noch zunahm, leiden. Die Ausübung seines künstlerischen Talents mußte sich so auf die Erinnerungsskizzen zu den Wanderungen und die Zeichnungen zu den Bilderromanen beschränken und auch diese bedurften vor Veröffentlichung immer noch einer Überarbeitung durch fremde Hand. Lebensmut, Witz und gute Laune aber halfen ihm, seine Behinderung auszugleichen, dazu kam dann noch die Fähigkeit, sich auch als Schriftsteller ausdrücken zu können. Was aber ist von dem Ruhm des Dichters und Zeichners bis heute eigentlich geblieben?

Seine Bildergeschichten haben in den letzten Jahren in Frankreich und in seiner Schweizer Heimat Neuauflagen erlebt und auch hierzulande ist eine Ausgabe erschienen. Der Grund dafür mag vielleicht darin liegen, daß man in Rudolf Toepffer heute einen der Vorläufer einer Art Trivialliteratur unserer Tage sieht, nämlich der Comic Strips. Man weiß auch, daß Wilhelm Busch, mit dessen Werk sich der Vergleich geradezu aufdrängt, die Bilderromane Toepffers genannt hat; im heute führenden Literaturlexikon deutscher Sprache aber hatte man anfangs übersehen, ihn aufzunehmen; erst im Ergänzungsband ist er dann mit zwei seiner Werke vertreten. Die Romane und Novellen schließlich sind längst vergessen. Was aber einer Wiederentdeckung heute würdig wäre, sind zweifellos seine "Reisen im Zickzack", diese leicht hingeschriebenen und liebevoll illustrierten literarischen Kleinode, die soviel an einfacher Lebensweisheit enthalten. Gerade unserer Zeit des perfektionierten Massentourismus und des passiven, aber anspruchsvollen Touristen täte eine Rückbesinnung auf den wahren Extrakt aller Reisekunst, nämlich die vom technischen und finanziellen Aufwand. unabhängige Fähigkeit, richtig zu sehen und zu empfinden, sicher gut. Toepffer meint dazu einmal:

"Ah, Ihr, die Ihr im Wagen reist! Ich wollte, daß Euch eines Tages zu Eurem Nutz und Frommen ein Rad am Wagen bricht! Da steht Ihr nun! Kein Stellmacher in der Nähe, keine Hilfe;"

und der Dichter malt nun aus, welche kleine Freuden den Reisenden erwarten, wenn er sich entschließt, zu Fuß die Reise fortzusetzen. Am Ende zieht er das Fazit solcher Betrachtungen:

"Dankt für alles Gesehene und Erlebte dem Rade, das zur rechten Zeit brach und Euch lehrte, was leider so wenige wissen: Daß auf der Reise nur diejenigen Vergnügen empfinden, die es sich zu schaffen wissen, nicht aber die, die es sich nur bezahlen können!"

Die Reise nach Venedig sollte die letzte Wanderung mit seinen Schülern gewesen sein; die zunehmende Verschlechterung seines Augenlichtes und ein Leberleiden machen nun solche Exkursionen unmöglich. 1846 stirbt Toepffer, noch keine 50 Jahre alt, in seiner Heimatstadt Genf.

"Philosophen, Christen und Gelehrte," so meinte er einmal, "predigen bei hundert Gelegenheiten, daß hienieden kein Mensch, auch nur einen Augenblick, eines vollkommenen Glücks teilhaftig werde. Vor meinem Gewissen und vor Gott, der die Wahrheit sieht, erkläre ich, daß für mich wenigstens diese Behauptung nicht zutrifft. Ich kann es aussprechen, daß ich nicht Augenblicke, nicht Stunden, sondern ganze Tage reinsten Glücks gekannt habe. Und solche Augenblicke, Stunden und Tage habe ich auf der Reise, in den Bergen genossen, meistens einen schweren Rucksack auf dem Rücken."

Rudolf Toepffer, ein wandernder Moralprediger? Wohl kaum; schon eher ein Mensch, dem im Jean Paul'schen Sinne Reisen Leben war, und ebenso, sein Leben eine Reise.

Heinrich Krohn: Der Reisende im Zickzack - RUDOLF TOEPFFER
In "Reiseleben" Heft 14, S. 22-30.
(Holzminden: Ursula Hinrichsen; 1987)
ISBN 3-922293-12-3


Reiseliteratur im Zeitalter mechanischer TransportmittelTable of contentsSchiffahrtmuseen und -archive

Reproduced by kind permission of Alex W. Hinrichsen. All copyrights acknowledged.

© 2004-15 bdkr.com  

bdkr.com P.O.Box 119 Cranbrook Kent TN18 5WB United Kingdom