Reisen und leben, Heft 15 / 1987

Alex W. Hinrichsen:

1. Deutsches Tourismus-Museum (Gedanken, Ziele)

"Wahren Genuß von einer Reise durch die gesegnete Pfalz hat nur der Fußwanderer, weil nur ihm die Höhen und Thäler alle zugänglich sind. Für ihn ist die Pfalz ein erquicklicher Boden, er braucht nicht zu befürchten, hier jenem anmaßenden übersättigten Reisepöbel bei jedem Schritte zu begegnen, der in dem engeren Rheinthal vermöge des leichten Dampf-Verkehrs das Land heuschreckenartig überfluthet."

Diese für heutige Leser amüsante Feststellung aus dem Jahre 1846 kennzeichnet eine Entwicklung des Reisens, die sich der Schreiber der Zeilen kaum hätte vorstellen können. Der regelmäßige Dampfschiffsverkehr war auf dem Rhein im Jahre 1827 aufgenommen worden, und im Jahre 1846 fuhren rund 1 Million Passagiere auf den Dampfern. Was waren das für Leute?

Neben den Einwohnern, die mit dem Schiff von Ort zu Ort fuhren, oder den Handwerkern, die in Holland Arbeit suchten, waren es auch Vergnügungsreisende. Man kannte den 'Fremden', den 'Reisenden', aber einen Touristen kannte man noch nicht. Gereist wurde natürlich schon immer, als Pilgerreise, als Kavaliersreise, als Bildungsreise, aber so einfach um des Vergnügens willen, und jeder?

Ein Reisehandbuch kostete damals einen Thaler; soviel verdiente ein kleiner Handwerker vielleicht in ein bis zwei Wochen. Aber die Einführung der Dampfkraft auf dem Wasser und auf der Schiene ermöglichte wesentlich preiswertere und schnellere Reisemöglichkeiten als vorher mit der Reisekutsche. Neugier verlockte viele Menschen, auch einmal ein Stückchen mit der Pferde- oder Dampfeisenbahn zu fahren. Welch herrliche Beschreibung finden wir dazu in Peter Rossegers "Meine erste Fahrt mit dem Dampfwagen", als er mit seinem Paten Jochen, den die Begier auf das Neumodische plagte, als 11-jähriger Bub eine Strecke auf der gerade eröffneten Semmeringbahn, der ersten Alpeneisenbahn, fuhr. Den Paten ritt "der Teufel" bei seinem Entschluß zu fahren, denn er vermeinte sich sicher zu sein, daß der Dampfwagen mit den angehängten 'Häusern' ein Blendwerk sein müßte.

Das Reisen um des Reisens willen nahm zu, das Wort 'Fremdenverkehr' entstand neu im deutschen Sprachschatz, eine regelrechte Reisewut packte Leute, die es sich leisten konnten (die Zeitschrift DIE JUGEND reihte im Jahre 1896 diese Reisemut in den Triumphzug der Dummheiten ein). Es entstanden nach und nach heute berühmte Seebäder; Spa in Belgien, das Modebad des 19. Jahrhunderts verhalf der englischen Sprache zu einem Synonym für das Heilbad schlechthin.

Die englischen Reisenden, die von den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts an den Kontinent mit ihrem 'Murray' unter dem Arm überschwemmten, waren lange Vorbilder für andere Reisende. In einer Werbebroschüre für die im Jahre 1911 (!) veranstaltete Internationale Ausstellung für Reise- und Fremdenverkehr in Berlin wird der deutsche Reisende folgendermaßen charakterisiert: "Wir Deutsche reisen zu wenig..., wir sind deshalb noch nicht genügend abgeschliffen."

Und heute? Manche nennen die (West-)Deutschen Weltmeister des Reisens.

Ein Wort zu dem oben genannten 'Murray', der aus einer im Jahre 1830 veröffentlichten Reisebeschreibung entstand, kann ich mir nicht versagen: Wie bei vielem hatten die Engländer auch schnell begriffen, daß mit dem Reisen gutes Geld zu verdienen war: John Murray hatte als einer der ersten in großen Auflagen Reiseführer herausgegeben, aus denen der Tourist die Sehenswürdigkeiten ablas und 'abhakte' (seit 1836). Cook hatte die ersten Gesellschaftsreisen organisiert, und ein anderer englischer Verleger hatte als erster kleine Büchlein gegen die Langeweile beim Reisen vertrieben.

Unzählige Bücher und Schriften, Karten, Prospekte, Postkarten, Plakate, Reiseandenken, Fahrpläne, Kursbücher (wer weiß, wann das erste erschien?), Reiseutensilien wie Koffer und Taschen, Kofferaufkleber und Reisetagebücher belebten eine ganz neue Epoche: die Zeit des Tourismus.

Reisen kann auch in Arbeit ausarten, aber es kann auch Menschen einander näher bringen. Ein liebenswertes Buch zu diesem Thema ist von Werner Bergengruen 'Baedeker des Herzens - ein Reiseverführer', das er dem Passauer Bahnhofskellner widmete, der ihn mit "Geehrter Herr Reisender" angeredet hatte. Aber Bergengruen hatte bei der Wahl seines Titels nicht bedacht, daß er Urheberrechte des berühmten Reiseführerverlages Karl Baedeker verletzte. So mußte die zweite Auflage des Buches in 'Badekur des Herzens' umbenannt werden.

Und wie sieht heute der (Massen-)Tourismus aus? Nun, das brauche ich hier nicht zu erörtern. Wir beteiligen uns ja selber daran mit Millionen von Autos, mit Reisen im Flugzeug nach den Malediven, mit Surfbrett und Rennrad. Wir haben Institute, die Markt Untersuchungen dieses großen Wirtschaftszweiges anstellen, wir kämpfen um Marktanteile und wir lieben - den Komfort. Wer ist schlichter Fußwanderer? Warum sollen wir uns das alles nicht leisten, wenn wir es haben? Es wird uns noch mehr Freizeit versprochen, und schon werden die ersten Kongresse abgehalten, auf denen heiße Diskussionen zur Bewältigung der Freizeit stattfinden (auch eine Art Tourismus: Der Kongreßtourismus!). Es gibt aber auch heute viele Mitbürger, die sich keinen Urlaub während eines arbeitsreichen und beschwerlichen Lebens leisten können, und in anderen Ländern gibt es andere Lebensgewohnheiten, die wir durch unsere Reisen dorthin verändern. Als um 1850 die ersten Engländer die Schweizer Gipfel stürmten, hielt man sie für verrückt und heute 'erfahren' wir uns die ganze Welt. Landschaftsfresser nannte Jost Krippendorf die Entwicklung - es gibt Positives und Negatives in der Entwicklung des Tourismus.

Das kürzlich in Holzminden eröffnete 1. Deutsche Tourismus- Museum hat sich Ziele gesetzt, einiges aus dieser Entwicklung in sich abwechselnden Ausstellungsthemen aufzugreifen. Die landschaftsbezogene Darstellung der Entwicklung des Weserberglandes, aber auch anderer Landschaften, kann einen Einblick geben; aber auch die Verkehrsentwicklung, die Veränderungen der touristischen Möglichkeiten, der touristische Mensch in seiner Erlebniswelt (heute spricht man von Erholen, Erleben, Erfahren), kulturelle und technische Besonderheiten, deutsche Landschaften, Veranstaltungen, Gegenständliches, Werbliches, Literarisches sind Stichworte.

Das 1. Deutsche Tourismus-Museum in Holzminden könnte die hier geborene Idee zu einer Begegnungsstätte der Touristen mit den in der hiesigen Landschaft Lebenden nutzen. Woher kommen unsere Gäste, warum kommen sie zu uns, welche Wünsche haben sie?

Das 1. Deutsche Tourismus-Museum will in der Zusammenarbeit mit anderen Institutionen ein lebendiges Museum sein, das das Reisen erläutert. Reisen ist nicht nur Geschäft, es ist die Begegnung der Menschen, der Bildung und des Verstehens. Es tut einem Reisenden wohl, wenn er gut aufgenommen wird und nicht ausgenommen! Aber es tut auch dem bereisten Gebiet wohl, wenn es in seiner Art Anklang findet und Gastfreundschaft die Kraft des Verstehens fördert.

Das 1. Deutsche Tourismus-Museum ist kein fertiges Museum; es entwickelt sich mit den Menschen, die dazu beitragen möchten, das Reisen und die dazugehörigen Umstände darzustellen.

Alex W. Hinrichsen: 1. Deutsches Tourismus-Museum (Gedanken, Ziele)
In "Reisen und leben" Heft 15, S. 13-15.
(Holzminden: Ursula Hinrichsen; 1987)
ISBN 3-922293-15-8


Athens and its environs, 6. editionTable of contentsDie Weser

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