Reisen und leben, Heft 16 / 1988

Michael Berndt:

Warschau im Spiegel von Reiseführern des 19. und 20. Jahrhunderts

Die Beschäftigung mit alten Reiseführern sollte die Detailarbeit "am Text" dieser Bände - ich nenne sie "Reiseführer-Philologie" - nicht vernachlässigen. Bei dieser Arbeit werden Fragen folgender Art untersucht: Wie ist ein Reiseführer aufgebaut? wie sehen seine Kapitel und Abschnitte aus? Wie ausführlich werden größere und kleinere Orte beschrieben? In welchem Verhältnis stehen allgemeine Informationen zu "Rundgängen"? Sprache und Stil sind zu untersuchen, ebenso die Aktualität des Mitgeteilten und die in jeweils neuen Auflagen vorgenommenen Veränderungen. Das alles klingt nach trockener Arbeit, führt aber bei näherem Hinsehen zu einer Menge bunter und kulturgeschichtlich interessanter Details.

Mit seinem Vortrag "Warschau im Spiegel alter Reiseführer des 19. und 20. Jahrhunderts" wollte der Referent an einem bewußt eng gewählten Thema ein Stück "BAEDEKER-Philologie" demonstrieren. Warschau wurde freilich nicht nur als Beispiel, sondern auch um seiner selbst willen gewählt - der Referent hat sich seit Jahren mit dieser Stadt beschäftigt.

Die Reize des kriegszerstörten und wiederaufgebauten Warschau erschließen sich gerade dem Besucher in besonders intensiver Weise, der mit einem Vorkriegsführer in der Hand auf Spurensuche geht. Von Erlebnissen dieser Art, einem prickelnden Spiel zwischen Vergangenheit und Gegenwart, handelte die Einleitung des Vortrags.

Darauf folgte ein kurzer Abriß der wichtigsten Stufen der Stadtentwicklung. Da war zunächst die mittelalterliche Stadt (die spätere Altstadt) hoch über der Weichsel. Bald entstanden erste Vorstädte. 1596 wurde Warschau Hauptstadt des Königreichs Polen-Litauen. Im 16. und 17. Jahrhundert errichtete der Adel seine Residenzen in kleinen Privatstädten weit außerhalb der Altstadt - die Straßenführung dieser Siedlungen bleibt bis in die Gegenwart erhalten. Im 18. Jahrhundert entsteht die "Sächsische Achse", ein ost-westlich ausgerichteter Komplex von Palast, Park und Straßen; daneben wird die Nord-Süd-Achse (vom Stadtschloß ausgehend) ausgebaut. Ab 1750 wird das Straßennetz im Westen und Süden der Stadt dichter, eine große Wallanlage umschließt noch viel unbebautes Land. Im 19. Jahrhundert erlebt die Hauptstadt des (russischen) Königreichs Polen eine rasche wirtschaftliche Entwicklung, die Bevölkerung wächst rapide, Straßennetz und innerstädtischer Verkehr werden ausgedehnt. Nach 1918 wird Warschau zur Millionenstadt. 1939 von deutschen Truppen erobert und zur Distriktshauptstadt des "Generalgouvernements" gemacht, erhebt es sich 1944 erfolglos gegen die Besatzer. Nur die südlichen Teile der Stadt entgehen der endgültigen Vernichtung. Kurz nach dem Krieg wird der Wiederaufbau der Stadt beschlossen.

Der Hauptteil des Vortrags stellte die Warschau gewidmeten Kapitel deutschsprachiger Reiseführer vor.

Die frühesten Belege stammen von 1834 und 1841, aus der 8. und 11. Auflage des "Passagier auf der Reise in Deutschland..." von H.A.O. REICHARD. Warschau wird hier mehr nach Lexikonart beschrieben, einzelne Sehenswürdigkeiten und Institutionen werden stichwortartig aneinandergereiht, und zwar noch nicht rundganggerecht, sondern rein summarisch: "Gebäude", "Vergnügungen, Umgebungen" u.ä.. Das Material der 11. Auflage ist aktualisiert und enthält auch Bemerkungen über den Aufstand von 1830/31.

Noch kürzer, und ebenso summarisch stellt C.F. JAHNS "Illustriertes Reisebuch" Warschau dar, dessen Auflagen ab 1847 erscheinen.

Zwei Jahre zuvor war Warschau an das westeuropäische Schienennetz angeschlossen worden. Vom Bahnhof ist aber erst im nächsten Führer die Rede, in Theobald GRIEBENS "Illustrirtem Handbuch für Reisende in Mitteldeutschland", und zwar im 1. Teil, der 1855 erstmals erschien. Das auch nach BAEDEKER-Maßstäben sehr gründlich recherchierte Kapitel 75 der 7. Auflage von 1858 gliedert sich wie folgt:

- "Praktische Vorbemerkungen" (Hotels, Droschken, Theater, etc.),
- "Lexikon-Stichwort" (Kurze allgemeine Ausgaben über Warschau).
- Rundgänge: die Sehenswürdigkeiten werden nicht mehr nur aufgelistet, sondern nach räumlicher Zusammengehörigkeit beschrieben. Rundgang 1 führt vom Bahnhof zum Schloß und von da südlich entlang des "Königlichen Wegs" nach Lazienski/Belvedere; Rundgang 2 beschreibt den Westen und Norden Warschaus; und Rundgang 3 die Vororte.

Die sieben deutschsprachigen Auflagen des BAEDEKER-Handbuches "Rußland" erscheinen zwischen 1883 und 1912. Das Warschau-Kapitel besteht in allen Auflagen aus den gleichen Elementen, nur Umfang und Inhalt sind Änderungen unterworfen:

Die praktischen Vorbemerkungen sind eine Fundgrube für den, der das Alltagsleben Warschaus in jener Zeit kennenlernen will - bis hin zu Kutscherflüchen oder Tips für Theater "nur für Herren".

Es folgt, wie bei GRIEBEN, das Lexikon-Stichwort; seine Angaben (z.B. Bevölkerungszahlen) haben sich als verläßlich erwiesen. Nicht im GRIEBEN findet sich ein kurzer Abriß der Geschichte Warschaus und ein Abschnitt mit dem Titel "Straßenleben".

Die Passagen zum "Straßenleben" gehören zum Lebendigsten, was der BAEDEKER-Text über Polen mitzuteilen hat: Er zeichnet ein Bild von Menschen, ihrem Wuchs, ihren Physiognomien, ihren Trachten und Gewändern.

Den Hauptteil des Warschau-Kapitels nehmen jeweils die Rundgänge ein. Es sind immer fünf:

1. Der "Königliche Weg" vom Schloß bis zum Belvedere; zurück durch die "lädenreiche" Marszalkowska.
2. Der Westen der Stadt.
3. Die Altstadt und der Norden.
4. Praga (auf der rechten Seite der Weichsel).
5. Die Umgebung Warschaus.

Alle Auflagen enthalten drei Karten: Gesamte Stadt, Innenstadt, Umgebungen von Warschau.

Eine detaillierte Betrachtung der Warschau-Kapitel in allen BAEDEKER-Auflagen ergab folgendes Bild:

Die 1. Auflage (1883) ist gekennzeichnet durch epische Breite und Ausmalung vieler kleiner Begebenheiten am Rande, sowie einen manchmal schwärmerischen Stil. Besonders breit angelegt sind Schlachtendarstellungen und andere historische Begebenheiten. Der Autor war mit Sicherheit eine Militärperson von Bildung und breitgestreuten Interessen. Die 2. Auflage (1888) weicht im Warschau-Text nicht sehr stark von der ersten ab, ist aber etwas kürzer (einiges aus dem militärisch-historischen Bereich fällt weg, ebenso Details von ausgemalten Bildern). Dafür nimmt der Bearbeiter (der wohl nicht mehr der Autor der ersten Auflage ist) Korrekturen und Präzisierungen vor, ergänzt und aktualisiert im Einzelfall. Die zum Teil abenteuerliche Polnisch - Schreibung wird zaghaft (aber nicht konsequent) verbessert.

Die 3. Auflage (1892) druckt den Text der 2. fast unverändert ab. Die 4. Auflage (1897) nimmt zwischen den ersten Auflagen und denen des 20. Jahrhunderts eine Mittelstellung ein. Sie enthält zwar noch vieles aus der lebendigen und ausführlichen Darstellung der Auflagen 1 bis 3, ist aber wieder kürzer und vor allen präziser. Verzeichnet werden aktuelle Entwicklungen. Die Polnisch-Schreibung wird weiter verbessert und Betonungszeichen über russischen Wörtern eingeführt. Außerdem werden erstmals seit 1883 (!) die Karten korrigiert und ergänzt.

In den Auflagen 5 bis 7 (1901, 1904, 1912) wird der Text kürzer und nüchterner, er wird inhaltlich und stilistisch (besonders in der 7. Auflage) gestrafft, aber auch manches Neue aufgenommen. Eine wichtige Tendenz ab der 6. Auflage: Gebäude und Institutionen werden nicht mehr wie bisher zuerst polnisch, dann russisch aufgeführt, sondern umgekehrt...

Die BAEDEKER-Reisehandbücher galten überall als vorbildlich. Bei einem polnischen Warschau-Führer in deutscher Sprache (J. HERDAN, "Führer durch Warschau, 1933) geht die Verehrung so weit, daß ganze Passagen wörtlich übernommen werden.

Noch ein Nachtrag zur "BAEDEKER-Philologie". Während der deutschen Besatzung Polens im 2. Weltkrieg kam 1943 ein Generalgouvernement-BAEDEKER heraus. Eine Besprechung dieses Werks vor dem Hintergrund der deutschen Besatzungspolitik (und der polnischen Reaktionen darauf) wäre der Gegenstand eines eigenen Referats. Hier soll nur kurz angemerkt werden, daß das Warschau - Kapitel ebenso aufgebaut ist, wie in den klassischen sieben Auflagen - nur die Rundgänge sind etwas anders angelegt. Überflüssig zu sagen, daß der Inhalt sehr stark von dem der Vorgänger abweicht.

Michael Berndt: Warschau im Spiegel von Reiseführern
In "Reisen und leben" Heft 16, S. 13-16.
(Holzminden: Ursula Hinrichsen; 1988)
ISBN 3-922293-16-6


Karl Baedeker und seine KonkurrentenTable of contentsEntstehung eines Reiseführers

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