Reisen und leben, Heft 20 / 1990

Alex W Hinrichsen:

Europäische Reisen im 18. und frühen 19. Jahrhundert

Tagungsbericht von der internationalen wissenschaftlichen Tagung in der Eutiner Landesbibliothek vom 14. bis 17. Februar 1990

In Heft 19 von REISEN & LEBEN war auf die Ausstellung "vom Reisen in der Kutschenzeit" hingewiesen worden, die am 24.11.89 in der Eutiner Landesbibliothek eröffnet worden war. Vom 14. bis zum 17. Februar fand nun im freundlichen Städtchen die im Titel genannte Tagung statt, die organisatorisch und thematisch einen einwandfreien Verlauf zeigte. Für den Rezensenten war beeindruckend, mit welchem Einsatz die Vorbereitungen getroffen worden waren, wie die Teilnehmer betreut wurden und wie sich die politische Repräsentanz für das Vorhaben einsetzte. Deshalb zuerst einmal ein paar Worte zum Verlauf.

Die Tagung begann am Mittwoch, dem 14. Februar, mit einer Begrüßung durch den Kreispräsidenten, Herrn Prühs. Die ersten drei Vorträge schlossen sich an den Eröffnungsnachmittag an, bevor um 20.00 Uhr die eigentliche offizielle Begrüßung vorgenommen wurde. Der Einladung zur Tagung waren über 100 (!) Personen gefolgt, von Berlin bis Kiel und von New York bis Halle/DDR. Zum Empfang am Abend begrüßten der Landrat, Herr Steffens, sowie die Leiterin der Eutiner Landesbibliothek, Frau Bernin-Israel. Sie versäumte nicht, insbesondere Frau Dr. Luber und Herrn Dr. Griep für die Vorbereitungen zu danken, die - gestatten Sie meine Bemerkung - ganze Arbeit geleistet hatten. Die Ansprache anläßlich der Eröffnung hielt Herr Dr. Janus, Ministerialdirigent bei der Ministerin für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur des Landes Schleswig-Holstein (die Schleswig-Holsteiner scheinen für Aktivitäten in der "Provinz" sehr aufgeschlossen zu sein, auch wenn es sich "nur um Papier" handelt). Nachstehend werden einige Abschnitte aus der Ansprache von Herrn Dr. Janus zitiert:

"Die Sammlungen der Eutiner Landesbibliothek, die vor gut 150 Jahren (1837) durch Zusammenlegung von drei privaten Bibliotheken entstanden ist, bergen so manche Schätze, die erst allmählich durch Initiativen wie die des heutigen Symposiums einem breiteren Publikum bekannt gemacht werden. Deshalb fügt es sich gut, daß parallel zu diesem Symposium die Ausstellung "vom Reisen in der Kutschenzeit" zu sehen ist...Vieles von dem, was die Ausstellung und der dazu erschienene Katalog uns als teils längst überholt erscheinen läßt, holt uns dennoch oft wieder ein. Wir haben das Zeitalter des Airbusses eingetauscht. Fand man die 1821 eingeführten Eilwagen als Poesie - Verlust des Reisens, wie soll man dann erst die gegenwärtige Verkehrskultur einschätzen? "Das Reisen war weder für den Körper noch für den Geist ein erstrebenswertes Vergnügen" heißt es im Katalog als Einschätzung des Reisens mit dem Postwagen. Und wie ist es heute? Zugegeben, ich bin auf dem Weg von Kiel nach Eutin weder durchgeschüttelt worden oder im Morast stecken geblieben, noch habe ich Schwellungen, Prellungen, Knochenbrüche und Verstauchungen davongetragen, dafür haben wir andere, zeitgemäße und nicht weniger anstrengende Begleiterscheinungen zu erdulden. Ich erinnere nur an die kilometerlangen Staus auf den Autobahnen zu Beginn der Ferien .... Die Gattung der Reiseliteratur scheint außerordentlich vielfältig und bunt, unterhaltend, spannend und informativ, auch wenn die Reisenden nicht immer die vertrauenswürdigsten und genauesten Nachrichten mit nach Hause brachten ...Dabei scheint sich die Reiseliteratur auch als besonders wandlungsfähig erwiesen zu haben: aus den Fabelgeschichten der Antike und frühen Neuzeit wurden unter dem Druck der wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritte die bände- und faktenreichen Expeditionsberichte des 18. und 19. Jahrhunderts; zu den frühen Robinsonaden und imaginären Reisen gesellten sich bald die "empfindsamen Reisen" und Wanderungen durch die eigenen Seelenlandschaften; die alten Reise-Instruktionen und Routenbüchlein wandelten sich zu den jeweils modernsten Reiseführern durch alle Teile der bekannten Welt.

Als neugieriger und unterhaltungsbedürftiger Leser fällt es mir leicht, die alten Reisen ohne weiteres entweder zu genießen oder wegzulegen, wenn sie mir nicht gefallen. Wie aber nähere ich mich dieser disparaten Gattung, dieser merkwürdigen Mischung aus Abenteuer und Statistik, aus Fakten und Fabeln wissenschaftlich?

Vielleicht liegt gerade in der Disparatheit, Vielfalt und Wandlungsfähigkeit der Gattung eine Erklärung dafür, daß sich die Wissenschaft erst spät und zögernd mit der Reiseliteratur und den Reisebedingungen vergangener Zeiten auseinanderzusetzen begonnen hat; kein Fach, keine Forschungsdisziplin fühlte sich lange Zeit so richtig dafür zuständig.

Daß und wie sehr sich diese vornehme Zurückhaltung in den letzten beiden Jahrzehnten gewandelt hat - dafür ist das Programm der Eutiner Tagung über "Europäische Reisen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts" ein schöner Beleg. Historiker, Anthropologen, Literatur-, Kultur- und Museumswissenschaftler, Gartenforscher und Geographen aus dem In- und Ausland haben sich hier zusammengefunden, um ihre Arbeit mit den alten Reisen und Reisebeschreibungen im Überblick und im Detail vorzustellen und zu diskutieren. Lesen und Reisen macht klug, sagt ein altes Sprichwort. Angesichts dieses Tagungsprogramms hege ich keine Zweifel, daß über Lesen und Reisen zu hören zumindest klüger macht.

Ich wünsche Ihnen eine ertragreiche Tagung, anregende Gespräche, und ich bin sicher, daß die Erforschung der Reiseliteratur wieder neue Impulse erfahren wird."

Wie anregend Gespräche verlaufen können, darf nur kurz folgendes Beispiel zeigen. Beim Abendessen in einem netten, kleinen Restaurant kamen Herr Dr. Lohmeier und wir auf seine Ausgabe der Stormschen Werke im Deutschen Klassiker Verlag zu sprechen. Im Band 4 auf S. 774 f. ist von ihm die Entstehungsgeschichte der 'Florentiner Novelle' beschrieben. Schon am nächsten Tag übergab uns Herr Dr. Lohmeier eine Kopie dieser Stelle, zusammen mit einer anderen Fundstelle, zu dem Hinweis, daß sich Th. Storm von P Heyse zur Erarbeitung dieser Novelle einen Baedeker hatte besorgen lassen.

Es waren insgesamt 20 Vorträge angesetzt, die in einem Sammelband im Spätherbst veröffentlicht werden sollen. Die Vorträge begannen mit Justin Stagls Einführung zur Apodemik des 16. bis 18. Jahrhunderts. Äußerst spannend war der Vortrag von Paul Raabe zu den Auswertungen von Stammbüchern des Sohnes von Friedrich Nicolai aus Berlin, der mit seinem Vater eine längere Reise in die Schweiz unternommen hatte.

Bisher wurde nur die Hinreise von Fr. Nicolai veröffentlicht ("Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz" 1783-1796); anhand der Stammbücher läßt sich nun die Rückreise einschließlich aller Aufenthalte rekonstruieren. Aus der Fülle der Vorträge dürfen hier nur noch einige wenige ohne Wertung herausgegriffen werden. Da war der Bericht von Holger Hasenkamp "Vom Kaffee in frühen Reiseberichten". Der Autor ist Direktor des Jacobs Suchard Museums in Zürich gewesen und konnte so aus erster Hand über Reiseberichte referieren, die die Einführung der Kaffeebohne beinhalten. Daß es z.B. schon im Jahre 1610 Kaffeeschenken in Konstantinopel gab, war genauso zu erfahren, wie auch Näheres über die Bibliothek des Museums. Da ist zu nennen Andreas Oehlke, der über die irische Metropole Dublin in deutschen Reisebeschreibungen des 18. und 19. Jahrhunderts berichtete. Aus der DDR waren Referenten aus Halle, Rostock und Magdeburg angereist. Thomas Höhle berichtete z.B. aus Reisebüchern des 18. Jahrhunderts über die Schweiz und Ingrid Kuczynski über englische Reisende am Ende des 17. Jahrhunderts.

Nicht unerwähnt soll bleiben, daß die örtliche Presse über die Tagung in der Stadt zur Eröffnung und zum Verlauf aktuell informierte; in der Stadt gibt es sogar eine Bürgerinitiative für einen Bücherschatz, und zwar die "Freunde der Eutiner Landesbibliothek e.V.".

Zum Abschluß darf auf die Vorbereitungen zur Veröffentlichung eines Bestandskataloges der Eutiner Landesbibliothek über die Reiseliteratur- und Geographie-Bestände hingewiesen werden. Es wird sich um rund 1.500 Titel aus dem Erscheinungszeitraum von 1500 bis 1914 handeln. Der Bestandskatalog verzeichnet neben den exakten bibliographischen Angaben auch Annotationen zur Erschließung des Inhaltes.

Alex W. Hinrichsen: Europäische Reisen im 18. und frühen 19. Jahrhundert
In "Reisen und leben" Heft 20, S. 14-16.
(Holzminden: Ursula Hinrichsen; 1990)
ISSN 0936-627X


Der Harz und der Thüringer WaldTable of contentsDie Chronologie der Baedeker von Hamburg und Schleswig-Holstein

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