Reisen und leben, Heft 22 / 1991

Leonardo Benevolo:

Die Geschichte der Stadt

- Rezension von Wolfram Grohs -

Auf knapp 1100 Seiten mit rd. 1650 Zeichnungen, Fotografien, Luftbildern und Skizzen veröffentlicht L. Benevolo, Prof. für Architekturgeschichte in Italien seit 1946 und selbst Architekt (geb. 1923 in Orta bei Novara/Italien), erstmalig 1975 seine Geschichte der Stadtentwicklung in 15 Kapiteln.

Mit den Abbildungen kommentiert der Autor seine Gedanken - komprimierter Text würde etwa 75 Seiten füllen - zum Thema Stadt in der Anpassung an die Landschaft, mit der Bedeutung der Wohnung (der Umwelt) im Stadtgebilde, den Verschiebungen der Machtverhältnisse bei der Verfügung über Grund und Boden und die Gestaltung der Gebäude - dies ist die Frage nach dem jeweiligen Bauherrn. Einbezogen werden die Entwicklungen der Technik und der weltpolitischen und geschichtlichen Grundpositionen in ihrer Auswirkung auf den Stadtorganismus.

Der Autor zeigt in diesem Zusammenhang die Stellung und Arbeitsteilung von Künstlern, Architekten, Technikern sowie von Kunst und Wissenschaft im Zeitablauf. Erwähnenswert ist die häufige Herausarbeitung der sozialen Formen des Zusammenlebens in ihrer Bedeutung für die Stadt (Privatleben mit, im und um das Haus). Neue Einblicke gewähren seine Kommentare durch Vermittlung weltgeschichtlicher, zeitlich geordneter Vergleiche auch dem Fachmann, ohne dem Laien allzu schwer verständlich zu bleiben. Ist es nicht interessant, daß schon 1575 erste Festlegungen für Platzgestaltungen entstehen oder daß ein Jahrhundert vorher ein Drittel der öffentlichen Investitionen für die Stadtmauern, die Straßen (!) und die Wasserversorgung ausgegeben wurden? Es ist erstaunlich, welche Wirkung ein Stadtgebilde entstehen läßt, wenn man es nur auf sein mit unterschiedlicher Strichstärke gemaltes Straßennetz reduziert (ein häufig vom Autor verwendete Darstellungsmethode). Die meisten dieser Pläne zeigen Maßstäbe und Nordpfeil und sind somit oft auch über die verschiedenen Stadtgebilde vergleichbar. Vor allem am Beispiel Roms beweist der Autor "einmal mehr die durch nichts aufzuhaltende Vergänglichkeit allen weltlichen Glanzes; es zeigt die Macht der Zeit und erinnert an die Unbeständigkeit des Glücks".

Soll man dann kritisieren, daß die Metropolen ihrer Zeit - besonders aber Paris, Rom und London - immer neu als Beispiel auftauchen? Es wird damit nur deutlich, daß Formen der Stadtplanung immer neu aufgrund des Problemdruckes in Ballungsgebieten entstehen. Die damit verbundenen Konsequenzen für zeitlich verschobene Übernahmen solcher Lösungen und deren Verbreitung auf dem platten Lande würden jedoch zu hohe Anforderungen an den Laien stellen. Rund 250 Seiten des Buches gelten der Stadt seit 1850 - in der Entwicklung von der "Post-Liberalen Stadt" über die "Moderne Stadt" zur heutigen Situation - unter Einbezug der Ansiedlungsprobleme in der Dritten Welt (Stadtrandsiedlungen).

Weitere 220 Seiten gelten den "mittelalterlichen Städten in Europa" und rd. 120 Seiten dem Thema "Rom, die Stadt und das Weltreich". Nicht ausgeklammert werden "Ursprünge der Stadt im Vorderen Orient", "im Fernen Osten", "Islamische Städte"; selbstverständlich sind griechischen und italienischen Städten eigene Kapitel gewidmet. Weltpolitische und religiöse Faktoren werden in ihrer Prägekraft verdeutlicht: Der Koran ist die Grundlage für das Fehlen von öffentlichen Plätzen und Bauwerken, abgesehen von Badehäusern und Moscheen.

Das dazwischengeschobene Kapitel über das künstlerische Schaffen der Renaissance hebt die Bedeutung dieser gravierenden Zeitabschnitte für viele Entwicklungslinien der Lebensgemeinschaft heraus, paßt allerdings nur bedingt in den Gesamtzusammenhang, wie dies auch für die Kapitel zur geistesgeschichtlichen Entwicklungslinie der industriellen Revolution oder der Kolonisierung der Welt gilt.

Die in diesen drei Kapiteln vorzufindende Kürze der Darstellung - so interessant sie ist - setzt nach Meinung des Rezensenten doch mehr Vorinformation für die geschichtliche Breite der Themen für die entsprechende Umsetzung in Bau- Stadtgestalterisches voraus.

Für ein bis 1975 unter anderen Gesichtspunkten zusammengetragenes Material ist es aber bedauerlich, daß Aspekte von gebauten totalitären Stadtentwicklungskonzepten des letzten Jahrhunderts in Ost und West noch weitgehend ausgeklammert sind, wo man doch nach Öffnung der Grenzen eine Reihe derartiger Stadtteile schon früher "bereisen" konnte.

Mit knapp 4 kg Gewicht ist das Buch für den "Reisenden" nichts zum Mitnehmen. Es kann der weit vor dem Reisetermin vorzuziehenden Vorbereitung dienen und gestattet durch entsprechende Register der Abbildungen den Zugang zu den beschriebenen Städten - meist aber eben den Großstädten. Man sollte bereit sein, aus den kommentierenden Aussagen eigene Einsichten abzuleiten, die die Beobachtungsmöglichkeiten beim Gang durch eine Stadt schärfen. So kann man sehr gut lernen, wie sich Stadtgrundrisse alter und neuer Entwicklung im Stadtplan auffinden lassen. Die Querverweisung über Baudenkmäler unterstützt im Buch diesen Lernansatz. Man erfährt auch, daß die Skulptur im Stadtgrundriß je nach religiöser Sicht unterschiedlich gewertet wird: Im islamischen Bereich steht statt des menschlichen Bildes das Ornament im Vordergrund! An anderer Stelle wird verdeutlicht, daß im Spiegelsaal die Landschaft in den Raum hereingezogen werden sollte. Nimmt man diese Beispiele, so bietet das Buch eine unübersehbare und immer neu überraschende, jedoch nicht immer nachvollziehbare Fülle von Anregungen zur Reisevorbereitung. Man könnte auf den Gedanken kommen, sie herauszufiltern und als Anleitung zu Stadtgängen zusammenzustellen. Zwar geht der Autor nicht auf Reiseführer ein, aber immerhin verwendet er einen Stadtplan von Paris - 1873 - aus einem Reiseführer von Hachette. An anderer Stelle findet sich das Wort "Itinera": In frühester Zeit ein Weg, nur für Fußgänger ausgewiesen (Itineris = der Weg, die Reise, die Fahrt).

Der Rezensent kennt einige städtebauliche Literatur und ist dennoch an manchen Stellen ins Staunen gekommen, hat sich über neue Sichtweisen und Aspekte gefreut. Doch ist der Text nicht leicht zu lesen und zu finden, da der kommentierend angelegte Text und Bilder oft verwirrend und ohne deutlichen und allein verstehbaren Zusammenhang für den Laien in städtebaulichen Fragen nebeneinander stehen. Der Text als Essayform hätte sicher auch ohne Bildmaterial einen guten Platz in der Städtebauliteratur. Schon damit wäre deutlich zu machen, daß "jede Stadt als Einzelfall gelten muß, gleichgültig ob sie sich im Laufe der Zeit weiterentwickelt und verändert hat oder, ob gleich bei der Gründung ihre endgültige Form festgelegt war. Für die Form einer Stadt gibt es keine allgemeingültige Regel, weil sie das Ergebnis des Zusammenwirkens sehr vieler Faktoren ist: Der natürlichen Beschaffenheit der Umgebung, der lokalen Tradition, weltlicher und religiöser Einflüsse; und es war jeweils sehr unterschiedlich, welcher dieser Faktoren die entscheidende Rolle spielte."

Leonardo Benevolo: "Die Geschichte der Stadt" - nach der 1975 erschienenen italienischen Ausgabe "Storia delle Citta" - in deutscher Übersetzung von Jürgen Humburg nach der erweiterten 6. Auflage von 1982, Campus Verlag GmbH, 6000 Frankfurt/Main (2. Auflage 1984, DM 248,-; 4. Auflage 1990, DM 99,-)

Wolfram Grohs: Die Geschichte der Stadt
In "Reisen und leben" Heft 22, S. 6-8.
(Holzminden: Ursula Hinrichsen; 1991)
ISSN 0936-627X


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