| Reisen und leben, Heft 23 / 1992 BaedekerianaFür neue Leser sei gesagt, daß immer wieder neue Hinweise (zum großen Teil von Lesern) erfolgen, die eine Ergänzung der Baedeker-Verlagsgeschichte darstellen, aber auch in Zusammenhang mit dem Namen BAEDEKER Lustiges, Informatives oder auch Nonsens unter der Rubrik BAEDEKERIANA zusammengestellt werden. Zu Beginn der BAEDKERIANA wird nachstehend ein Referat von Karl F. Baedeker zitiert, das er am 16. September 1974 gehalten hat: Das Reisehandbuch Der Vortragende hatte sich die Aufgabe gestellt, die geistige Bedeutung des Reisehandbuches, seine allgemeine literarische Form und deren besondere Ausprägung in Baedekers Reisehandbüchern zu umreißen. 1. Die geistige Bedeutung: Der Mensch ist ein aktives, ein tätiges Wesen. Als solches ist er ein Mitarbeiter am Ganzen der Schöpfung. Sein Wesen, seine Sicht passen sich dieser Aufgabe an, sie vereinfachen und verengen sich: darin liegt eine Gefahr. Gott hat die Welt in sechs Tagen erschaffen, am siebten Tag hat er sie betrachtet. Der Mensch bleibt in seiner vita activa ein Spezialist, in seiner vita contemplativa kann er die Schöpfung als Ganzes betrachten. Dazu muß er das Gebiet verlassen, in dem er tätig ist, er muß Urlaub nehmen, Ferien machen. Die Schöpfung als Paradies kann der Mensch nur als Reisender betreten, nur dort, wo er als tätiges Wesen unbeteiligt bleiben kann. Das Buch nun, das ihm, dem Reisenden, eine Landschaft, ein Land als ein Stück Schöpfung zeigt, ist das Reisehandbuch. Es will ihn finden, sehen und verstehen lehren, ihm eine Fähigkeit zurückgeben, die in der vita activa verkümmern muß: die Fähigkeit des Staunens. II. Die literarische Form. - Das Reisehandbuch wendet sich nicht an den aktiven Menschen, den Fachmann, sondern an den staunenden Menschen, der in jedem von uns steckt. Darum muß es ein universales Buch sein, das seinen Gegenstand räumlich und sachlich vollständig beschreibt. Dies unterscheidet es von der Reisebeschreibung, deren Verfasser auswählen darf, was ihm gefällt und der sich insofern zwischen den Leser und das Land stellt. Das Reisehandbuch vermittelt gesichtetes, geformtes und gewertetes Material über das ganze Land, es zu durchdringen und zu beseelen bleibt Aufgabe des Reisenden. Das, was der Autor der Reisebeschreibung für ihn leistet, muß er selbst leisten; dabei bleiben viele auf der Strecke, die dann die Schuld dem Reisehandbuch geben. Das Reisehandbuch beschreibt des Wesen eines Landes vollständig für den R e i s e n d e n, der sich das Land neu ansieht. Das Buch begleitet ihn als Ratgeber und Helfer auf seinen Wegen, d.h. es ist nicht für den sitzenden, den ruhenden, sondern für den laufenden und bewegten Menschen in der Schöpfung beschrieben. Das bestimmt seine literarische Form. Jedes literarische Werk enthält ein episches, ein dramatisches und ein lyrisches Element, von dessen Harmonie der Charakter und das Gelingen des Werkes abhängen. Im Reisehandbuch liegt die fundamentale Schwierigkeit in der Bewältigung des universalen e p i s c h e n Stoffes, den ein Land in allen Aspekten für den Reisenden bietet; in der Auswahl des Wesentlichen, d.h. des Charakteristischen und im Eingehen auf alle Lebensgebiete. Die redaktionellen und stilistischen Schwierigkeiten ergeben sich aus der notwendigen Kompression. Eine typographische Hilfe bietet die Verwendung eines kleineren Schriftgrades für weniger wichtige Dinge. Das d r a m a t i s c h e Moment, der rote Faden, ergibt sich aus der Tatsache, daß der Stoff für den reisenden Menschen gegliedert wird. Die richtige Gliederung in Landschaften und Reiserouten mit ihren Höhepunkten bringt das notwendige Leben in den Stoff. Hier tritt der alte Gegensatz von Freiheit und Bindung durch die Alternative von Handbuch und Führer auf. Das gute Reisehandbuch muß zwischen diesen Extremen wie zwischen Scylla und Charybdis hindurchsteuern. Die Bindung, als der Zwang aber auch die Hilfe liegt in der Führung auf bewährten Reiserouten, an die der Stoff auskristallisiert ist wie der Kandiszucker an den Faden; das bestimmt die Gliederung des Reisehandbuches. Die Freiheit des Reisenden wird aber gewahrt, indem er nicht gezwungen wird, dieser Führung sklavisch zu folgen, sondern der Stoff einer Route auch handbuchartig bereitgehalten ist. Die Hilfsmittel hierzu sind die Auszeichnungsschriften, die wichtige Dinge durch Fettschrift hervorheben, und die Gliederung in viele Einzelabschnitte, die für sich gelesen und mit Hilfe des reichhaltigen Registers sofort gefunden werden können. Das besondere Seitenbild eines Reisehandbuches, also Wechsel von großem und kleinem Schriftgrad, Hervorhebung von Worten durch fette, gesperrte oder kursive Schrift ergibt sich daraus, daß das Buch einen sehenden, sich bewegenden Menschen begleitet, dem es durch Führung helfen will, ohne ihm seine Freiheit zu nehmen. Das l y r i s c h e Moment, die Poesie glänzt im Reisehandbuch vorwiegend durch Abwesenheit. Es ist in dieser Hinsicht seine Aufgabe, sich jederzeit von der Wirklichkeit übertreffen zu lassen; darin unterscheidet es sich von der Werbeschrift. Es macht den Reisenden mit der altgemeingültigen Wertung bekannt, versucht ihn die wahre, freilich immer umstrittene Qualität der Dinge sehen und erkennen zu lassen, setzt seinen Akzent also nicht subjektiv, sondern möglichst objektiv im Sinne der Allgemeingültigkeit. Hier liegt eine eminente Schwierigkeit. Die bekannten Baedekersternchen vertreten dieses lyrische Moment am sichtbarsten; auch mit seinen Gefahren. III. Baedeker. Im allgemeinen Bewußtsein ist der Name Baedeker fast gleich bedeutend mit Reisehandbuch. Mein Urgroßvater Karl Baedeker (1801-59) hat als erster klar erkannt, daß das Reisehandbuch eine geistige Aufgabe hat; er hat es verstanden, die gültigste Form dafür zu finden und in einem Leben des Reisens diese Form an vielen Bänden in deutscher, englischer und französischer Sprache lebendig auszuprägen. Wie alle Stifter neuer Formen lebt er als mythische Figur im Allgemeinbewußtsein fort. Für Tausende von reisenden Menschen sind die Reiseerinnerungen unlösbar mit Baedekers roten Reisehandbüchern verknüpft. Die ihm folgenden Generationen, von denen ich die vierte bin, hatten und haben dieselbe Aufgabe jeweils für ihre Zeit neu zu lösen gehabt und zu lösen, eine Aufgabe, von der die wechselnde Anpassung an neue Verkehrsmittel, Postkutsche, Eisenbahn, Auto ein wesentlicher Teil ist. Herr Eicke Eitzen aus Bielefeld hat aufgrund des Hinweises im letzten Heft, S. 20, zur Werbung von 1913 einen vierseitigen Prospekt mit dem gleichen Titel mit der Jahresangabe "Herbst 1908" vorgelegt. 1913 hatte der Prospekt einen Umfang von 8, 1914 dann (anläßlich der Bugra) sogar von 12 Seiten. Es sind nun doch einige Beweise der Werbetätigkeit zusammengekommen, die den Schluß zulassen, daß der Verlag zwischen 1901 und 1914 eigene Prospekte herausgegeben und darüber hinaus auch in einigen Publikationen Anzeigen aufgegeben hat. Der bekannte Ausspruch von Fritz Baedeker, lediglich die Reiseführer als "noble Reklame" zu nutzen, kann damit nicht mehr aufrechterhalten werden. Ob die Preisverleihung anläßlich der Weltausstellung im Jahre 1900 (auf dem Prospekt von 1901 vermerkt) positiv dazu beigetragen haben könnte? - Zur werblichen Aussage nach 1945 wird in einer der nächsten Hefte ausführlicher eingegangen werden. In der Bibliographie, 2. Auflage/ 1991, wird auf S. 52 oben auf die Exportfähigkeit von Produkten hingewiesen in Zusammenhang mit den englischen und französischen Neudrucken. Bei einem Band von Thüringen (D 236) kann nun belegt werden, daß auch deutsche Bände exportiert wurden. Das ist nichts Besonderes; erst unter Beachtung der Rechnungsstellung findet folgender in D 236 enthaltene Stempel einen Stellenwert: Mit dieser Maßnahme erhielt der Verlag Karl Baedeker in der beginnenden und sich dann in schwindelnde Höhen abhebenden Inflation für seine Verkäufe die dringend benötigten Devisen. Auf einer Buchmesse ist wieder einmal ein Autograph aus dem Hause Baedeker angeboten worden, und zwar ein hs. Brief vom 17. April 1887 an einen Korrespondenten. Inhaltlich sind zwei bemerkenswerte Hinweise gegeben: 1. Es wird der Name von Dr. Hermann Reimer zitiert, mit dem der Verlag in ständigem Kontakt steht, um klimatologische Fragen in Zusammenhang mit dem Band 'Oberitalien' abzustimmen. 2. Es wird der genaue Druck- und Verkaufstermin von D 365 genannt. Drucktermin: Okt./Nov. 1885, Verkaufsbeginn: Dez. 1885 (1886 ist als Erscheinungstermin im Buch genannt). Für D 366 (Oberitalien, 12. Auflage) wird als möglicher Erscheinungstermin Ende 1887 genannt. Da dieser Band 1889 als Jahreszahl enthält, dauerte diese Veröffentlichung mindestens ein Jahr länger als ursprünglich gedacht. Wenn auch - wie üblich - (fast) alle Briefe mit 'Karl Baedeker' gezeichnet sind, ist es eindeutig die Handschrift von Fritz Baedeker. Dr. Friedrich A. Wagner (zitiert in der Bibliographie auf S. 69 mit dem Nachruf auf Karl F. Baedeker) hat mir einen Brief von K.F. Baedeker überlassen, in dem einige aufschlußreiche Zeilen zu Auflagen enthalten sind: KF. Baedeker schätzt die verkaufte Jahresauflage vor 1939 auf 150 - 200.000 Bände; zwischen 1951 und 1974 sind ca. 1,5 - 2 Mio. Bände verkauft worden. Dabei waren die erfolgreichsten Autoführer: Deutschland, Österreich, Frankreich, Oberitalien. Erfolgreichste Titel der Reiseführer waren: Ostberlin 90.000; Berlin, große Ausgabe 45.000; München 70.000; Frankfurt/M. 35.000; Schleswig-Holstein 20.000. Die erste Auflage von USA erreichte zwischen März und November 1974 eine verkaufte Auflage von 7.600 Exemplaren. Die Stadt Helmstedt hat sich zusammen mit einem Fachautor die Sternchen der alten Baedeker-Reiseführer zunutze gemacht. Eine Pressemitteilung vom Oktober 1991 enthält unter der Überschrift "Sternchen für Helmstedt" einige Hinweise auf die ehemalige Universitätsstadt mit Auszügen aus Baedeker'schen Reiseführern von 1842 an. Die touristische Zeitschrift CHECK-IN berichtete im Juli/August-Heft 1991 über alte Baedeker und über neue Reiseführer (mit Archiv-Fotos rarer Exemplare, wie z.B. der Biedermeier-Rheinreise). Herr Baldo Podic teilt einen neuen Titel aus dem Jahre 1923 mit: Mina Loy: "LUNAR BAEDEKER", Dijon - printed by Darantiere 1923. Mina Loy war amerikanische Dichterin der Pariser-amerikanischen Epoche (Hemingway, G. Stein, Brancusi). Postum erschien dann: Mina Loy: "LUNAR BAEDEKER & TIME TABLES", Highlands, California 1958 Baedekeriana
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