Reiseleben, Heft 8 / 1984

Reiseleben und Reiseliteratur

erschienen in "Unsere Zeit", Jahrbuch zum Conversationslexikon, 1. Band, Leipzig 1857 (Stockhaus)

Eins der wichtigsten Kennzeichen der Bildung und Gesittung wie des Charakters einer Nation ist wol die Art, wie man reist und sich während der Reise die Zeit zu verkürzen oder sie nutzbar zu verwenden weiß. Zu letzerm Zwecke empfiehlt sich die Lectüre unterhaltender oder unterrichtender Schriften, besonders wenn sie Reisezwecke speciell betreffen oder zur Orientirung während der Reise selbst dienen können, gewiß als das vorzüglichste Mittel, und es war daher namentlich in unserer Zeit, wo auf Schienen und Dampfschiffen eine fortwährende Völkerwanderung und Ratenmischung vor sich geht, dem Buchhandel nahe genug gelegt, diesem Bedürfnis durch die Hervorbringung speciell darauf berechneter Schriften entgegenzukommen.

Die ersten Anfänge einer für den Unterricht der Reisenden bestimmten Literatur als selbständigen Zweigs der literarischen Production kann man in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts setzen. Begreiflicherweise konnte auch von einer solchen Literatur nur erst nach Erfindung der Buchdruckerkunst die Rede sein. Hierzu kam, daß im Verlauf des 16. Jahrhunderts die Anzahl der Reisenden bedeutend und fortwährend zunahm. Die Städte waren übermächtig emporgekommen; Handel, Gewerbefleiß und Künste standen in Blüte; den Raubrittern, die früher der Schrecken aller Kaufleute und Reisenden gewesen, war das Handwerk gelegt und wenn auch die Straßen, namentlich die entlegenen, sich keineswegs einer solchen Sicherheit erfreuten wie heutzutage, so war diese Sicherheit gegen frühere Zeiten doch immerhin eine vergleichsweise große. Die Straßen, besonders die zwischen den Haupthandelsplätzen, und die Communicationsmittel überhaupt, soviel sie auch zu wünschen übrigließen, wurden gebessert; die Wälder, diese Schlupfwinkel räuberischen Gesindels, mehr und mehr gelichtet. Die Völker traten miteinander in innigem Verkehr, und während früher Reisen wol nur selten zu anderm als Geschäftszwecken unternommen wurden, trieb jetzt das wissenschaftliche Bedürfniß und überhaupt das Bedürfniß, sich zu unterrichten und die Welt zu sehen, viel häufiger zum Reisen an als früher. Namentlich hatte die Entdeckung Amerikas die wissenschaftliche Wißbegier, ungemein gereizt und den Drang, sich in der Welt umzusehen, und damit auch die Reiselust ausnehmend gesteigert, wenigstens unter den Prinzen, den Adeligen von höherer Erziehung, den Vornehmen überhaupt und den Männern von wissenschaftlicher Bildung, deren Menge mit der zunehmenden Zahl und Blüte der Hochschulen zunahm. Wer nicht reisen konnte, las wenigstens Relationen über ferne Weltwunder, wofür durch eine große Anzahl von Reisewerken, von denen bereits vollständige Sammlungen ins Leben traten, in recht reichlichem Maße gesorgt war. Für diese sehr entwickelte Reisebewegung im 16. Jahrhundert spricht auf unzweideutige das Factum, daß durch sie eine ganz neue Wissenschaft hervorgerufen wurde, nämlich die Apodemik oder Anleitung, wie man auf Reisen das Nützliche mit dem Angenehmen und dem Comfort verbinden könne. Das erste Buch dieser Art rührte von dem Italiener Grataroli her und führt den Titel: "De regimine iter agentium, ver equitum, ver peditum, ver navi, ver curru seu rheda" (1562). Ihm folgte wenig später die Apodemik von dem bekannten Baseler Theodor Zwerger, die unter dem einfachem Titel "Methodus apodemica in eorum gratiam, qui cum fructu peregrinari cupiunt" zu Basel 1577 erschien. Apodemiken waren, wie man schon aus den Titeln sieht, in lateinischer Sprache verfaßt, mithin nicht für die große Menge, sondern blos für die wissenschaftlich Gebildeten aller Länder bestimmt, deren gemeinsame Sprache in jenem Zeitalter das Lateinische war.

Das 17. Jahrhundert hemmte die Reiseentwicklung. In England wie in Deutschland traten langjährige und innere Kriege halb religiösen halb politischen Charakters ein, die das Reisen und Wandern sehr wenig wünschenswerth und oft sogar unmöglich machten. Wer nicht nothgedrungen reisen mußte, zog es vor, zu Hause zu bleiben, um nicht irgendeiner Streifpartie in die Hände zu fallen oder gar mitten in den Kriegstumult hineinzugerathen. Aber auch nach dem Aufhören der Kriege waren die Zustände den Reiselustigen wenig günstig. Die Straßen blieben unsicher oder waren selbst noch unsicherer wie zur eigentlichen Kriegszeit; denn aus den im Kriege nicht mehr beschäftigten Soldaten bildeten sich Räuber-, Mörder- und Mordbrennerbanden, die ihr Handwerk mit größter Frechheit üben konnten, weil das Gesetz machtlos, die Staaten und städtischen Gemeinden zerrüttet waren. Abenteuerliches Gesindel zog heimatlos von Ort zu Ort, sodaß damals, als friedlicher Versuch zur Minderung des Unwesens, der Paß ("cum certis testimoniis") zuerst in Deutschland aufkam. In England fällt in dieses Jahrhundert die Blüte der Highwaymen, die namentlich nach den Stuart'schen Kriegen alle Straßen unsicher machten. Wenn diese Gesellen sich sogar an ganze Reisegesellschaften wagten, so war der einzelne Reisende noch weniger sicher, plötzlich einen Schnapphahn mit vorgehaltenem Pistol auf sich zutreten oder, gehörte dieser zu der vornehmen Sorte der Landstraßenräuber, entgegenreiten zusehen. Dabei war man zu jener Zeit meist genöthigt, die Reise einzeln zu Pferde zu machen, weil die Wege verwahrlost und für Fuhrwerk zu schlecht, das Fuhrwerk selbst aber ganz elend war. Wie es unter diesen Zuständen mit den Wirthshäusern an den Landstraßen und in einsamen Dörfern beschaffen war, läßt sich denken, und selbst in den städtischen Gasthäusern fehlte es zu der Zeit in Deutschland noch an allem Comfort, umsoweniger aber an Grobheit und Schwerfälligkeit der Bedienung. Der berühmte Essmus von Rotterdam erfuhr dies auf einer Rheinreise noch im Jahre 1518 und entwirft davon eine lebendige Schilderung an seinen "Vertraulichen Gesprächen" ("Colloquia familiara", in dem Gespräche "Diversoria", d.i.. Gasthäuser). Die Wirthshäuser längs der Straßen und in den Dörfern boten nicht nur einen abscheulichen Aufenthalt, sie gaben selber häufig die Herbergen von Diebsgesindel ab, dessen Helfershelfer der Wirth vielleicht in Person, und zu beklagen war der Reisende, der sich durch irgendeinen Umstand genöthigt sah, in einem solchen Schmutz- und Diebeswinkel seine Nachtherberge zu nehmen. In den anderen Ländern sah es meist ebenso schlimm aus als in England und Deutschland; namentlich waren Italien, das Vaterland der Abellino und Rinaldo Rinaldini, und Spanien wegen der Unsicherheit ihrer Landstraßen noch bis in unser Jahrhundert verrufen und gefürchtet. "Wo haben", ruft Willibald Alexis im Vorwort zu dem "Reise-Pitaval" aus, "soviel interessante Criminalfälle sich ereignet als auf der Landstraße, auf Reisen, in Wirthshäusern?" Wie es mit den Reisen selbst fürstlicher Personen damals stand, davon erzählt Ludwig Bechstein gelegentlich ein charakteristisches Beispiel. Die Prinzen Bernhard und Albrecht von Sachsen-Meiningen traten im Mai 1666 eine Reise nach Tübingen an, um hier zu studiren, Von Gotha bis Satzungen brachten sie einen ganzen Tag, und als sie Abends in Salzungen eintrafen, geschah es mit zerbrochener Kalesche. An einem der nächstfolgenden Tage brach wiederum die Achse der prinzlichen Kutsche. Dies läßt auf den verwahrlosten Zustand der Landstraßen schließen, und es kann nicht Wunder nehmen, wenn Privatpersonen, die noch viel größern Gefahren ausgesetzt waren, vor dem Antritt längerer und schwierigerer Reisen es für gerathen hielten, ihr Testament zu machen. Es ist daher begreiflich, daß man aus dieser Zeit wenig oder nichts von Reisehandbüchern hört, nicht einmal von Apodemiken wie im 16. Jahrhundert. (Wie wir heute wissen, nicht ganz richtig, z.B. Martin Zeiller als Autor; Anm, der Redaktion)

Dennoch wurde noch im Laufe des Dreißigjährigen Kriegs, als dessen Wogen schon niedriger gingen, die erste Personenpost in Deutschland organisirt, indem Pütter 1640 einen Postwagencurs zwischen Hildesheim über Hannover nach Bremen anlegte, also in einem Landstrich, der bereits dem Kriegsgetümmel weniger ausgesetzt war. Erst 1683 folgte der Postwagen zwischen Heilbronn und Heidelberg, dann der zwischen Leipzig und Dresden, 1686 der zwischen Nürnberg und Hof, und man kann annehmen, daß bis 1705 solche Personenposten wenigstens auf allen Hauptstraßen eingerichtet waren. Aber die Landstraßen blieben meist in ihrem alten traurigen Zustande, Chausseen und Meilensteine gab es nicht, außer der Kunststraße zwischen Leipzig und Dresden, die zu Anfang des vorigen Jahrhunderts gebaut wurde, und selbst das wohladministrirte, mächtig voranschreitende Preußen hatte bis 1787 keine Chaussee. Die Postwagen waren schlecht und schwerfällig, meist offene Karren mit ungepolsterten Sitzen oder bloße unbedeckte Leiterwagen. Später wurden sie zwar mit leinenen dann mit ledernen Decken versehen; die Sitze aber blieben erbärmlich und die Wagen bis zum Luneviller Frieden ungeheuer schwer: Wagen mit Sprungfedern waren vor 1800 in Deutschland unbekannt. Die Personenposten konnten daher die Concurrenz mit den Privatfuhrwerken, den Lohnkutschern, den Hauderern nicht bestehen, wie schlecht es mit diesen auch bestellt sein mochte, und wer es haben konnte, reiste mit eigenem Geschirr. Eine Plage für die Reisenden war namentlich der lange Aufenthalt auf den Zwischenstationen. Wie schlecht für den Anschluß der Posten gesorgt war, dafür spricht schon der Umstand, daß ein Brief von Frankfurt bis Berlin im vorigen Jahrhundert neun Tage brauchte. Ein so hochwichtiges Ereigniß wie der Tod Friedrichs’ des Großen war, wie man aus einem Briefe Goethe' s ersieht, eine Woche später in Karlsbad nur erst als Gerücht bekannt.

Trotz dieser Übelstände nahm in der zweiten hälfte des 18. Jahrhunderts die Reiselust und Reisebewegung, wie in allen civilisirten Ländern so auch in Deutschland beträchtlich und in immer größeren Progressionen zu. Die Reisegelegenheiten hatten sich gegen früher ansehnlich vermehrt; die Landstraßen waren unvergleichlich sicherer; auch wurde mehr als früher für ihre Ausbesserung gesorgt. Die allgemeinen Zustände waren überhaupt geordneter, Handel und Wandel blühten auf, der internationale Verkehr wuchs. Die Bäder, namentlich Spaa und Pyrmont, zogen Reisegäste in großer Zahl und aus allen Ländern Europas herbei. Mit der fortschreitenden Bildung steigerte sich, wie einst im 16. Jahrhundert, die durch die Zerrüttung in den Hauptländern Europas solange gehemmte Reiselust und die Begierde die Welt zu sehen. Besonders mußte jeder Engländer von Stand und Reichthum seine große oder mindestens die sogenannte kleine Tour gemacht haben, um als ein Mann von Weltbildung zu gelten. Doch waren es nun nicht blos die Vornehmen und Reichen, welche sich auf Reisen begaben. Der Sinn für die Schönheiten der Natur war namentlich durch die englischen Dichter, der für Kunstwerke durch Winckelmann, der für gothische Baudenkmäler durch Herder und Goethe geweckt worden. Reisen nach Italien und besonders nach der Schweiz wurden daher immer häufiger und riefen das erneute Bedürfniß von Apodemiken und Reisehandbüchern hervor.

Schriften der ersten Art lieferten schon 1766 Köhler in seiner "Anweisung zur Reiseklugheit" (neue Auflage von Knoderling, 1788) und Graf Berchtold 1791 in seiner "Anweisung für Reisende". Die Literatur der Reisehandbücher im eigentlichen Sinne kam jetzt erst auf, und zwar durch die zu europäischer Berühmtheit gelangten Reisehandbücher und Guides des voyageurs von dem gothaer Geheimen Kriegsrath Heinrich August Ottokar Reichard. Sein "Handbuch für Reisende aus allen Ständen" erschien zuerst in Leipzig 1785 und erlebte im Jahre 1793 eine zweite Auflage; sein noch praktischeres Buch "Der Passagier auf der Reise in Deutschland und einigen angrenzenden Ländern" wurde bis 1831 in sieben Auflagen verbreitet (Das "Handbuch..." erschien zum ersten Mal 1784; Anm. der Redaktion). Dieses Reisehandbuch konnte in späterer Zeit wol überflügelt werden, ist aber als das Vorbild und die Grundlage aller spätern Reisehandbücher anzusehen. Eine weitere Ausbildung erfuhr diese Gattung der Literatur durch Johann Gottfried Ebel's werthvolle "Anleitung in der Schweiz zu reisen" (1793), welche 1810 eine dritte Auflage erlebte (die beiden ersten Bände dieses 4-bändigen Werkes erschienen in der 3. Auflage schon im Jahre 1809; Anm. der Redaktion) und ein Vierteljahrhundert lang der gewöhnliche Begleiter solcher die Schweiz besuchenden wißbegierigen Reisenden war, die vor einer etwas corpulenten Reiselectüre nicht zurückschreckten. Jedenfalls lieferte dieses Werk, von dem auch ein ziemlich ungeschickt angefertigter französischer Auszug besteht, den spätern Reisehandbüchern durch die Schweiz ergiebiges Material. Die mehrfachen großen Auflagen, welche diese Handbücher erlebten, und das Erscheinen anderer, wie Zober's "Der deutsche Wanderer" (2. Aufl., 1826), beweisen für die mit den Jahren sich steigernde Reisebewegung, die mehr und mehr alle Gebildeten ergriff, sodaß gereist zu sein fortan fast als ein unentbehrliches Requisit der Bildung betrachtet wurde. Erleichtert wurde die Befriedigung der Reiselust durch die Verbesserung der Posten, der Chausseen und Landstraßen, namentlich seit 1816 auch in Deutschland, nachdem schon früher in England sich das Postwesen in glänzendster Weise entwickelt hatte. Die langsamen, schwerfälligen und unbequemen Personenpostwagen wurden in Eilwagen und Diligencen verwandelt, die Bespannung verbessert, für möglichst rasche Beförderung, genauem Anschluß der Posten und für die Anlage neuer Stationen gesorgt, sodaß die Privatbeförderung durch Lohnkutscher u.s.w. in manchen Ländern, wie z.B. in Preußen, das in der Vervollkommnung des Postwesens mit gutem Beispiel vorangegangen war, mehr und mehr überflüssig ward. Die wohlfeile Beförderung besonders von Reisenden aus den untern Ständen auf gewissen meist kürzern Strecken unterstützte die Einrichtung der Omnibus. Mit der Entwicklung des Postwesens und der damit zusammenhängenden größern Reisebewegung ging begreiflicherweise die comfortablere und elegantere Einrichtung der Gasthöfe, die sich immer häufiger in prächtige Hotels verwandelten, Hand in Hand. die materiellen Genüsse und Bequemlichkeiten, die sich nun in einer Ausbildung, wie man sie vielleicht innerhalb seiner vier Wände nicht hatte, mehr und mehr an das Reisen knüpften, wurden so ein neuer Factor sich stets steigender Reisebewegung. Nach diesem Ziele möglichst schneller Beförderung wie möglichst comfortabler Beherbergung der Reisenden strebten im Wetteifer alle civilisirten Völker, und das Post- und Hotelwesen gewann mit der Entwicklung des internationalen Verkehrs überall einen gleichmäßigen, mehr europäischen Charakter, während die territorialen und provinziellen Besonderheiten allmälig schwanden. Mit diesem Umschwung entstand auch eine ganz neue Classe von Leuten, die sogenannten Touristen, die vom Reisen Profession machten, nur reisten um zu reisen, vielleicht auch ihre Reiseerfahrungen literarisch zu verwerthen, und durch das Monorar ihre Reisekosten ganz oder theilweise zu decken suchten. Und so erzeugte sich eineigener Literaturzweig, die Touristenliteratur, meist aus flüchtigen Reiseskizzen von mehr oder weniger geistreicher oder witziger Fassung oder sogenannten Reisenovellen bestehend, deren Ursprung sich jedoch schon auf Yorik's (Sterne's) "Empfindsame Reisen" und Thümmel's "Reisen durch Südfrankreich" zurückführen läßt.

Diese Reisebewegung und die damit zusammenhängenden Erscheinungen steigerten sich in nie geahnter Weise, als der Dampf der Motor wurde, welcher auf Seen, Flüssen und Meeren die Passagierschiffe und auf dem Lande ganze Züge von Wagen auf einmal in Bewegung setzte und die Schnelligkeit wie die Zahl der Reisenden so ungemein mehrte. Das Reisen wurde seitdem Gemeingut, es wurde sozusagen demokratisirt, wogegen sich freilich der romantische und abenteuerliche Reiz, der in frühem Zeiten mit dem Reisen verbunden war, immer mehr verlor. Dieser Umschwung, diese fast dämonische Geschwindigkeit, womit die Locomotive Hunderte von Reisenden auf einmal von einem Ort zum andern versetzt, diese Geradlinigkeit der windschnellen Bewegung, diese erstaunliche Abkürzung aller Entfernungen, diese auf Dampfschiffen und Dampfwagen unablässig vorsichgehende Classen- und Völkermischung sind ohne Zweifel von der unermeßlichsten und culturhistorischen Wichtigkeit. Indeß, die muthmaßlichen sittengeschichtlichen und socialen Folgen dieser Umwälzung und die merkwürdigen Symptome, die sich schon jetzt infolge dieser Umwälzung am Körper der Gesellschaft zeigen, können hier keiner nähern Erläuterung unterliegen. Es soll hier nur der Wirkungen gedacht werden, welche diese wahrhafte Revolution, diese Umkehrung und Fundamentalerschütterung aller Reiseverhältnisse auf denjenigen Zweig der Literatur gehabt hat, der sich mit der Kunst und dem Zweck des Reisens selbst beschäftigt.

Begreiflicherweise genügten die alten Reisehandbücher nicht mehr. Die Routen änderten sich. Ganze Verkehrsstraßen wurden außer Wirksamkeit gesetzt, andere traten an ihre Stelle. Städte, als Anhaltspunkte, bisher vielleicht auch als Mittelpunkte für Excursionen den Reisenden von Wichtigkeit, verloren ihre Bedeutung; unbedeutende Ortschaften, vordem vielleicht kaum genannt oder wenigstens für den Reisenden ohne alle Bedeutung, traten in den Vordergrund; Flüsse, sonst nur von Handelskähnen befahren, wurden seit Einführung der Dampfschiffe beliebte Vergnügungsrouten der Reisenden; und während neue Hotels in der Gestalt von Prachtpalästen sich erhoben, verödeten andere sonst vielbesuchte Gasthöfe. Ein berühmter Londoner Buchhändler, John Murray, erkannte mit praktischem Blick diese in England bereits gänzlich veränderten und auf dem Continent sich von Jahr zu Jahr ändernden Reiseverhältnisse, und ließ nun eine Reihe von Reisehandbüchern erscheinen, die wegen ihres rothen Einbandes als die "rothen Bücher" aller Welt bekannt sind, weil kaum je ein reisender Gentleman oder eine Lady ohne sie gesehen wird, und in denen er, obschon auf Reichard fußend, den neuen Reiseverhältnissen und Reisebedürfnissen Rechnung trug. Die Auflagen folgten sich rasch, und so wurde es dem Unternehmer möglich, mit den Änderungen, die von Jahr zu Jahr in den Reiserouten stattfanden, wie mit den in den Hauptstädten entstehenden neuen Hotels, öffentlichen Gebäuden, Kunstwerken, Sammlungen u.s.w. gleichen Schritt zu halten. In den Einleitungen zu seinen Handbüchern gibt er in der Regel spezielle Reisevorschriften, eine Anleitung zum Reisen in den betreffenden Ländern, also Das, was man eine Apodemik nennt, und im eigentlichen Text verfolgt er in übersichtlicher Weise die Hauptrouten, von denen er sich weiter auf die Nebenrouten und die interessantesten Seitenexcursionen verbreitet. Volk, Landessitte, Landschaft, Kunst, selbst Literatur, Sage und Geschichte sind darin in geschickter Weise berücksichtigt und durcheinandergeflochten, und da auch auf die Darstellung Fleiß und Sorgfalt verwandt ist, so kann man mit Recht sagen, daß sich Murray's Reisehandbücher ebenso instructiv als angenehm lesen, und zwar nicht Blos für den Reisenden. Wo Murray selbst nicht reiste hatte er seine Gewährsmänner, die für ihn reisten. Die gelungensten sind wol die Handbücher, welche Süddeutschland, Italien und die Schweiz zum Gegenstande haben. Über Letzteres, das "Handbook for travellers in Switzerland, and the Alps of Savoy and Piedmont", sagte jüngst die "Quarterly review": "Reisehandbücher, unvergleichlich werthvoller als das von Ebel, welches so lange Zeit das Feld monopolisirte, sind in englischer, deutscher und französischer Sprache veröffentlicht worden. Entschieden das beste wie das originalste von diesen ist dasjenige Murray's. Es enthält Alles, was irgendein gewöhnlicher Reisender zu wissen nöthig hat. Es hat in wundervoller Weise die Untersuchung der Augen gefördert, wozu auch das Handbuch über Südfrankreich und namentlich über Süddeutschland so wesentlich beigetragen hat. Wenn wir die beiden ersten Ausgaben mit der siebenten vergleichen, so finden wir, daß eine Menge schwieriger Excursionen, an die nie zuvor ein bloßer Tourist dachte, jetzt methodisch beschrieben sind, sodaß es gegenwärtig möglich ist, bis zu einem großen Grade von Genauigkeit die Zeit, die Mühsal, die verhältnißmäßige Gefahr und die Kosten jeder Bergbesteigung, die jemals, wenigstens in den häufiger besuchten Gegenden der Schweiz, gemacht wurde, vorauszuwissen."

Auf Murray's Handbüchern hat der deutsche Buchhändler Bädeker weitergebaut, und man kann sagen, daß seine bekannten Reisehandbücher, was die Genauigkeit des Detail und die praktische Einrichtung betrifft, wenig oder nichts zu wünschen übriglassen; denn Bädeker sieht überall mit eigenen Augen zu. So sind diese Handbücher mit Recht den Reisenden deutscher Zunge fast unentbehrliche Noth- und Hülfsbüchlein geworden, die in knappster Fassung nur das Nothwendigste geben. Beliebte deutsche Reisehandbücher sind ferner die von Grieben, das durch Zuthat zahlreicher Illustrationen ausgezeichnete von Jahn sowie die Bücher von Ernst Förster. Letztere haben mehr die Orientirung in Städten als auf Routen zum Zweck und sind wichtig in Bezug auf die Kunst; namentlich gilt dies von Förster's trefflichem "Handbuch für Reisende in Italien". Zu erwähnen sind auch die zu Hamburg erschienenen "Reisemanuale", die ebenfalls auf die Gegenstände der Kunst, des Volkslebens u.s.w. einzugehen suchen. Wenn wir diese deutschen Reisehandbücher, die mehr zur Belehrung auf dem Kunstgebiete dienenden von Förster vielleicht ausgenommen, mit den englischen genauer vergleichen, so werden wir allerdings gestehen müssen, daß dieser Vergleich nicht gerade zum Vortheil der deutschen ausfallen dürfte. Die Murray'schen "Handbooks" sind im Allgemeinen instructiver, geben zwar weniger Detail, verbreiten sich aber dafür auch über die Hauptgegenstände ausführlicher und zeichnen sich in stilistischer Hinsicht vor den deutschen vortheilhaft aus. Die Ursache davon liegt eben in den verschiedenen Bedürfnissen des deutschen und englischen Publicums. Der deutsche Reisende braucht solche Handbücher nur zum Nachschlagen, der englische auch zur Lectüre. Dazu besteht das reisende englische Public um zumeist aus der gebildeten Elite der Nation, während das deutsche aus den verschiedensten Elementen zusammengesetzt ist. Daher finden wir bei Murray meist nur die Hotels und Gasthöfe ersten Ranges, in den deutschen auch die Gasthöfe zweiten und dritten Ranges, die gewöhnlichen Speiseanstalten, die Wein- und Bierstuben, selbst die besten Cigarrenläden u.s.w. angezeigt. Dies Alles ist dem deutschen Reisenden sehr wichtig, dem reisenden englischen Lord oder Gentleman aber nicht. Überhaupt verlangt der Deutsche mit seinem von Haus aus encyklopädischen Sinn, daß man ihm möglichst viel Details bringe, während die Darstellung dabei immerhin zurückstehen mag. Der Engländer ist zufrieden mit den hervorragendsten Gegenständen, die er aber auch gründlich und in geschmackvoller Weise behandelt haben will; minder Bedeutendes kümmert ihn nicht.

In Frankreich begnügte man sich bis vor kurzem mit Post- und Eisenbahnbüchern und Reisekarten, während die wenigen Führer, die man früher hatte, sehr armselige Arbeiten und nicht einmal in ihren Angaben zuverlässig waren. Aber nach dem Vorgange der deutschen Reisehandbücher und namentlich der Murray'schen „Handbooks" hat man auch in Frankreich nicht zurückbleiben, ja jene Vorlagen womöglich übertreffen wollen, und es entstanden die Reisehandbücher von Joanne und Richard sowie das Reisehandbuch von du Pays, die in Bezug auf den Inhalt wenig, in Bezug auf die Darstellung nichts zu wünschen übrig lassen. Namentlich werden Joanne's "Reisehandbuch durch Deutschland" und du Pays' "Führer durch Italien", der die ehemals berühmten jetzt aber ein wenig veralteten Valeri'schen Führer weit hinter sich zurückläßt, als ebenso reichhaltig und genau in ihrem materiellen Inhalt wie musterhaft und geschmackvoll in Bezug auf Anordnung, Stil und Darstellung gerühmt. Sie sind mehr als bloße Führer, sie sind instructive Bücher, die sich auch zu Hause unterhaltend lesen lassen.

(Der 2. Teil folgt im nächsten Heft; die Rechtschreibung ist von 1857; Anm. der Redaktion).

Reiseleben und Reiseliteratur
In "Reiseleben" Heft 8, S. 25-31.
(Holzminden: Ursula Hinrichsen; 1984)
ISBN 3-922293-03-4


D334: Paris und Nord-FrankreichTable of contentsVorwort des Herausgebers

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