Reiseleben, Sonderausgabe 1984

Alex Hinrichsen:

Anmerkungen zur Wirtschafts- und Verkehrsgeschichte zwischen 1830 und 1880

Die Anmerkungen zur Wirtschafts- und Verkehrsgeschichte sind kein umfassendes Referat im zeitlichen Ablauf zwischen 1830 und 1880, sondern sie haben als Ziel eine Einführung in die sich gewandelten Voraussetzungen in dem genannten Zeitraum.

Wir erleben heute sicherlich sehr bewußt, daß von Berufen, wie z.B, dem des Informatikers oder dem des Programmierers, gesprochen wird, die es vor 30 Jahren in der heute ausgeübten Form nicht gab. Das Entstehen dieser Berufe ist in der Veränderung der technischen Entwicklung zu suchen. Die Ursache ist also die Summe des erarbeiteten Wissens, Könnens und der Technik, die neue Vorstellungs- und Realisierungswelten erschlossen. Aber diese Erkenntnis ist nicht auf unsere jüngste Zeit zu beschränken, sondern ein altes Phänomen, das seit Beginn des vorigen Jahrhunderts im Zuge der Industrialisierung bis dahin gefestigte Werte vollkommen erschütterte und Normen des menschlichen Zusammenlebens der vorangegangenen Jahrhunderte hinwegfegte.

Uns beschäftigt dieses Thema in Zusammenhang mit dem Reisen, mit dessen Veränderung und mit dem Reisen um des Reisens willen. Ich will mich hier nicht in einer Aufzählung bekannter Entwicklungen aufhalten. sondern versuchen, andeutungsweise Strukturen nachzuvollziehen. Diese Strukturen sind ein Spiegelbild von Entwicklungsphasen, die sich gegenseitig befruchten. Als Beispiel: Karl Baedeker stieß mit der Gründung seiner Verlagsbuchhandlung auf einen fruchtbaren Boden in der Entwicklung des deutschsprachigen Buchwesens. Die Technik der Buchherstellung veränderte sich und die Anfänge einer Liberalisierung des Menschen brachte eine höhere Nachfrage nach Lesenswertem von einer breiteren Bevölkerungsschicht.

Um 1800 gab es rund 500 buchhändlerische Betriebe, die sich hauptsächlich auf Städte, Universitäten und Bibliotheksstandorte konzentrierten. Zwischen 1816 und 1930 wurden 300 neue Firmen gegründet, eine davon war die von Karl Baedeker in Koblenz, einem preussischen Städtchen von 10.400 Einwohnern. Die Buchproduktion betrug im Jahre 1820 rund 5000 Titel, im Jahre 1830 rund 7300 Titel. Die Auflagen waren gering, Spitzentitel erzielten Auflagen von 1000-2000 Exemplaren. Im Jahre 1823 war die erste Schnellpresse von König installiert worden, sie erzielte eine um das 9-10fache höhere Leistung der herkömmlichen Handdruckpressen. Anstatt 16-20 Drucker benötigte die Schnellpresse nur noch einen Maschinisten und 4 Hilfskräfte.

Bei den Reisehandbüchern sind wir bisher auch immer noch auf Spekulationen über Auflagenhöhen angewiesen. Rückschlüsse von Angaben über Anzahl der Reisenden wären viel zu ungenau, da die veröffentlichten Reiseführer zumindest über den Rhein sehr zahlreich waren. Murray gibt zu Beginn der Aufnahme von Anzeigenanhängen in seinen Reisehandbüchern eine (subjektive) Aussage über die Auflagenhöhen aller von ihm veröffentlichten Bände. Daraus errechnen sich folgende Durchschnittszahlen (es ist aber zu beachten, daß diese Durchschnittszahlen nicht aussagen können, daß z.B. “Switzerland“ eine größere Auflage als „Egypt“ hatte):

Jahr der Veröffentlichung Anzahl Reiseführer Durchschnittsauflage pro Band
1843

10

1300
1846 13 1150
1847 14 850
1855 18 670
1864 19 ausländ. 790
1869 20 ausländ. 750

Aber wieder zurück zur deutschen Verlagsgeschichte. F.A. Brockhaus hatte bis zu seinem Tode im Jahre 1823 mehr als 400, zum Teil vielbändige, Werke seit der Verlagsgründung im Jahre 1805 herausgebracht. Das am 1.8. 1826 gegründete Bibliographische Institut (BI) beschritt ungewöhnliche Wege: Direktansprache des Verbrauchers, Subskriptionssammeln von Privatadressen und Teillieferungen auf Abonnement.

Allerdings gab es immer wieder Probleme mit der Lieferung von Papier, es blieb bis zur Jahrhundertmitte Mangelware. Der Rohstoff wurde aus Lumpen und Abfällen der Textilherstellung gewonnen. Erst im Jahre 1844 gelang es, das Holz auf mechanischem Weg als Rohstoffquelle zu erschließen. Das erste Patent von Keller hieß: "Verfahren zur Verarbeitung des Holzes in eine breiartige, besonders zur Papierfabrikation geeignete Substanz": Dieser Welterfindung folgte die chemische Aufschließung des Holzes in den Jahren 1852-1857. Maßgeblichen Anteil daran hatten der Papiermacher Voelter und der Handwerker Voith aus Heidenheim, der sich seit 1837 mit dem Bau von Papiermaschinen befasste. Im Auftrag der Württembergischen Centralstelle für Gewerbe und Handel aus Stuttgart besuchte J.M. Voith im Jahre 1855 die Weltausstellung in Paris. Bedeutende Erfindungen führen zu Verbesserungen im Holzschliff, größere Aufträge folgen, die Belegschaft steigt von 5 Mitarbeitern im Jahre 1825 über 35 im Jahre 1865 auf 145 im Jahre 1880. Die erste 6-PS-Dampfmaschine wird im Jahre 1864 aufgestellt und im Jahre 1867 findet man Voith auf der Pariser Weltausstellung. Im Anhang zu Baedekers Paris finden wir unter dem Stichwort "Maschinen-Gallerie" u.a, aufgeführt: Papierfabrikation und Schnellpressen von König & Bauer. In der Galerie der Wissenschaften und freien Künste werden Druckproben von Büchern und illustrierten Werken gezeigt.

Anfang dieses Jahres wurde der Gründung des Deutschen Zollvereins zum 1.1. 1834 gedacht. Fast parallel dazu hörten und sahen wir die Probleme des Güterverkehrs an den Abfertigungsstellen von und nach Italien. Welcher Bedeutung können wir in der Entwicklung der Wirtschaft und des Verkehrs dieser Zollvereins - Gründung beimessen?

Bevor ich darauf eingehe, ein paar grundsätzliche Aussagen zum Begriff der "Industriellen Revolution". Wir hören diesen Begriff immer wieder, haben aber sicher unterschiedliche definitorische Ansichten. Wir hörten vorher, wie sich die Papier- und Buchherstellung veränderte und damit ein Wegbereiter der Verlagstätigkeit war. Auf Baedeker bezogen waren aber noch weitere Komponenten notwendig: Die Entwicklung der Reisemöglichkeiten, sowohl was das Erreichen der Ziele als auch die Geschwindigkeit und die dafür aufzubringenden Kosten anlangte. Darüber hinaus mußte das reisende Publikum an Zahl zunehmen (Frage des zur Verfügung stehenden Geldes und der freien Zeit), und die Ziele mußten Attraktionen aufweisen.

Nun zur Definition nach Borchardt:

Die Industrielle Revolution kennzeichnet die Periode, die
1, neue Techniken verwendet (Dampf);
2, die Rohstoffe Eisen und Kohle massenhaft verwendet ;
3. das Fabriksystem als Organisationsform arbeitsteiliger gewerblicher Produktion einführt
und
4, die freie Lohnarbeit als Erwerbsform der Massen zu Hilfe nimmt.

Nun zum Zollverein:

Am Beispiel der Weser, auf der zwar eines der ersten Dampfschiffe fuhr, aber die fahrplanmäßige Dampfschiffahrt erst 1842 aufgenommen wurde (am Rhein schon 1827 und am Starnberger See noch früher), will ich zeigen, wie kompliziert Zollfragen innerhalb Deutschlands waren. Auf der Strecke Münden-Bremen waren um 1800 24 Zollstätten eingerichtet; auf der dreimal so langen Elbe zum Vergleich 33 Zollstätten

Zu den eigentlichen Wasserzöllen kamen noch eine große Anzahl von Nebenabgaben, wie z.B, die Akzidenzgebühren für die Bemühungen der Zollbeamten oder das Stapel- und Umschlagrecht (Stapelprivilegien von Münden, Minden und Bremen).

Die Wiener Kongreßakte vom 9.6.1815 sollte in den Art. 108-116 Grundsätze des Flußschiffahrtssystems regeln; diese Artikel waren aber in Deutschland nicht durchzusetzen. Im gleichen Jahre erließ die "Deputation des Bremer und Oberländischen Handelsstandes" ein Weserschiffahrtsregulativ: Abbau der Unregelmäßigkeit der Abfahrtszeiten, Festlegung feststehender Tarife, Sicherung des Transportes. Am 10. Sept. 1823 wurde die Weserschiffahrtsakte abgeschlossen; sie regulierte die Weserabgaben, die sich neben Zoll- und Akzidenzgebühren noch aus

  • Schiffs-Erneuerungsgeldern,
  • Mastengeldern,
  • Kommandantengeldern,
  • Fährliniengeldern,
  • Schleusengeldern für die Schleuse in Hameln und
  • Treibgeldern

zusammensetzten.

Das Ergebnis der Akte war ein gleichmäßiger, auf das Gewicht der Waren basierter Tarif (der alle die vorher genannten Gelder einschloß) nach dem 20-Gulden-Fuße. Für ein Bremer Schiffspfund (= 3 Zentner) waren 315 Pfg. oder 1 Thaler 2 Groschen 3 Pfennig zu erlegen, verteilt auf die Staaten Hannover, Preußen, Kurhessen, Braunschweig, Lippe und Bremen. Die Anzahl der Zollstellen wurde auf 11 gesenkt. Schon im Jahre 1824 konnten durch Vereinfachung die Zollgebühren um 25% gesenkt werden.

Etwa parallel dazu wurden die Vorläufer des Deutschen Zollvereins gegründet, und zwar im Jahre 1828:

a) Zollunion zwischen Preußen und Hessen-Darmstadt unter Preußens Finanzminister Motz,
b) eine Zollunion zwischen Bayern und Württemberg, und
c) der "Mitteldeutsche Handelsverein" mit den Teilnehmern Hannover Sachsen, Braunschweig und mehreren kleineren Staaten.

Im Mai 1829 schlossen sich Preußen, Hessen-Darmstadt, Bayern und Württemberg zusammen; am 1.1.1834 entstand dann der Deutsche Zollverein mit insgesamt 18 Staaten. 1835/36 kamen Baden, Nassau und Frankfurt, 1842 Braunschweig dazu. Ein "Steuerverein" von Hannover und Oldenburg hielt sich noch bis 1854, Mecklenburg, Schleswig und Holstein erklärten sich 1867 und die Städte Hamburg und Bremen sogar erst 1888 zum Beitritt bereit.

So erklärt sich auch der Satz in der 3. Auflage des Reisehandbuches durch Deutschland und den Oesterreichischen Kaiserstaat von Karl Baedeker aus dem Jahre 1846: "Das Gepäck wird auf dem Altonaer Bahnhofe von Holsteinischen Zollbeamten durchsucht."

Österreich gehörte nicht dazu, das war von den Preußen auch gar nicht erwünscht.

Als die Dampfschiffahrt auf der Oberweser mit Anschluß nach Bremen in den 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts eingeführt wurde, hätte der Aufenthalt an den Zollstellen eine fahrplanmäßige Personenbeförderung behindert. Deshalb wurde auf der Bergfahrt ein Zollhalt nur noch in Minden und zusätzlich bei der TaIfahrt in Rinteln eingelegt. Trotzdem sich Bremen nicht dem Deutschen Zollverein angeschlossen hatte, erklärte es sich zum 1.1.1856 bereit, auf Zollabgaben auf der Weser zu verzichten, zunächst auf 12 Jahre, dann für immer.

Murray mißt der Zollvereinsfrage eine große Bedeutung zu, wie z.B. die allgemeine Information zu Reisen in Deutschland in der 7. Auflage seines "Hand-Book for Travellers on the Continent" von 1850 belegt: "An Association called Zoll-Verein (Toll Union), headed by Prussia, is now formed for the furtherance of trade by consolidating the different states of Germany, and uniting them under the System of customs...Thus the traveller who has crossed the outer line is freed from the vexations of the Douanier in every part of Central Germany, and may proceed without Interruption from Belgium to the frontier of Russia, and from Tyrol to the Baltic, a distance of 700 or 800 miles."

Der 2. Teil dieser Bemerkungen ist etwas mehr chronologisch aufgebaut. Er gibt Einblicke anhand statistischer Hinweise in die wirtschaftliche und verkehrliche Entwicklung. In der vorindustriellen Phase in Deutschland bahnten sich schon Veränderungen an: Einzelne Staaten forderten von dem Hause Thurn und Taxis die Postregalien zurück. Ab 1816 wurde die Posthoheit übergeleitet, zuerst in den neuen Teilgebieten Preußens, 1851 z.B. auch im Königreich Württemberg und schließlich am 1. Juli 1867 in ganz Preußen gegen eine Entschädigung von drei Millionen Talar. Zwar ahnte man noch nicht die Entwicklung zum Massentransport, aber so unbedeutend war die Beförderung per Post auch nicht, wie z.B. die 500 000 Personen im Königreich Preußen, die auf der Postkutsche im Jahre 1831 fuhren, belegen.

Eingeflochten sei ein Auszug aus "Deutschlands erste Eisenbahn Nürnberg-Fürth" von C. Hutzelmann (erschienen Nürnberg 1885) zum Fahrkomfort auf den Postkutschen:

"Die Postwagen sind der Schrecken für Personen schwachen Körperbaus. ...Klage der Braut von G.E. Lessing im Sommer 1771 über eine Fahrt mit einer Postkutsche:"...binnen der vorhergehenden 36 Stunden nur 2 neue Achsen und zwei Deichseln am Reisewagen gebrochen, zwei Pferde vor demselben verloren und drei Gewässer überschritten hatten, bei denen jedesmal das Wasser in den Wagen drang und der nächste Tag dazu verwendet werden mußte, Kleidung und Gepäck der Reisenden zu trocknen"

Der Eisenbahnbau warf in der Anfangszeit gewaltige Probleme auf. Zuerst griff Spekulation und Rentabilitätserwartung beim Angebot von Eisenbahnaktien um sich, es gab Engpässe beim Beschaffen des Schienen- und des rollenden Materials, die ersten Lokomotiv-Führer wurden besser als der Direktor einer Eisenbahngesellschaft bezahlt; sehr schnell erkannte der Staat, d.h. das einzelne Territorium, die Beherrschungsfunktion einer Eisenbahnlinie, soziale Not entstand und 50 Jahre später hatte sich die Erwerbswelt völlig verändert. Doch der Reihe nach!

In der schon zitierten 3. Auflage des Reisehandbuches von Karl Baedeker steht, daß noch nach 10 Jahren der Inbetriebnahme der Nürnberg-Fürther Eisenbahn diese 15% und mehr Dividende als einträglichste Bahn abwerfe, bei rund 500 000 Passagieren jährlich. Dies war aber nicht bei allen Linien so. Das einzusetzende Kapital hing - genau wie heute - nicht nur von der Investition sondern auch von den Spekulationskosten ab. Und mancher voreilig erworbene 10%-ige Anteilschein konnte nicht immer realisiert werden. Auf einigen Strecken ging das Kapital beim Bau aus, so daß der Staat angefleht wurde, neue Finanzierungsmöglichkeiten zuzulassen (z.B, bei der München-Augsburger Eisenbahn). Einige vorgesehene Strecken wurden nicht gebaut, da sie in der Planungsphase Konkurrenzstrecken bekommen hatten. Die Kleinstaaterei half das Übrige dazu.

Acht Tage vor der Eröffnung der Eisenbahnstrecke Nürnberg-Fürth veröffentlichte der Landrichter Wellmer eine Schmähschrift, in der er seine Aktien zu 50 % des Nennwertes anbot und hoffte, daß leer bleibende Kassen die Bahn bald wieder zum Stillstand bringen würden. Zur Eröffnungsfahrt wurden von den Magistraten spezielle ortspolizeiliche Vorschriften erlassen, z.B. wurde die öffentliche Sicherheit durch eine eigens dafür bereitgestellte Kompanie des Landwehrregiments aufrecht erhalten.

Der eben erwähnte Landrichter behielt aber mit seiner Prognose nicht recht, wie die nachstehenden Zahlen zeigen:

Ah 1840 entfaltete sich die Kapitalgüterindustrie durch den Eisenbahnbau. Es entstanden Großbetriebe des Kohlenbergbaus und der Eisenindustrie, um den Import von Eisenbahnschienen, Lokomotiven und Waggons zu bremsen. Die Mechanisierung weiterer Industrien und der Eisenbahnbau ließen die Investitionsquote in vorher nie gekannte Höhen steigen. Die Folge war vermehrter Kapitalbedarf und wiederum die Gründung von Aktiengesellschaften und Großbanken zur Kapitalbeschaffung.

In Deutschland nahm das Eisenbahnnetz von 1845 bis 1860 von 2131 auf 11.026 km zu (im Jahre 1880 hatte es sich nochmals auf der Basis von 1860 verdreifacht).

In der Periode von 1837 bis 1848 hatten in Bayern 6 Kapitalgesellschaften umgerechnet 4 Millionen Mark aufgebracht, von 1849 bis 1858 waren es schon 44 Kapitalgesellschaften mit 145 Millionen Mark. Bergbau- und Hüttenbetriebe in Preußen benötigten in der Periode von 1834 bis 1851 23,29 Mill. Taler (14 Betriebe) an Fremdkapital, von 1852 bis 1859 70,69 Mill. Taler (59 Betriebe).

Es ist müßig, hier eine Aufzählung der durch die Eisenbahn erschlossenen Gebiete zu bringen, dieses läßt sich anhand von Karten und Literatur jederzeit nachlesen. Aber zwei Gesichtspunkte müssen festgehalten werden:

Die technische Entwicklung verlief nicht gleichmäßig sich steigernd, sondern in großen Wellenbewegungen des zuerst zögernden und punktuellen Auf bis 1847, dann eine größere Aufschwungphase besonders zwischen 1853 und 1857 und die nächste wieder nach 1871. Damit zusammenhängend muß man die soziale Entwicklung sehen, die sich im Vormärz aufbaute und die dann nach 1848 zu Konsequenzen, wie Gründung von Genossenschaften, Auswanderungswellen und der Gründung der Arbeiterbewegungen als Gegengewicht zur Kapitalisierung der Wirtschaft führte. In den 30er und 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts durchlebte "die Masse des niederen Volkes" (Sombart) einen Zustand chronischer Not. Angaben zu Einkommensverhältnissen beim Eisenbahnbau wurden oben schon gemacht. Nur eine Zahl sei wiederholt: Ein Tagelöhner erhielt pro Arbeitstag 40 Kreuzer. - In der Stadt Aachen gab es um 1840 ganze 133 Personen, die ein jährliches Einkommen von mehr als 2400 Talern hatten (Gesamteinwohnerzahl: 45000). Karl Baedeker spricht von Wohlstand in dieser Stadt durch jährlich 3000 Kurgäste, Tuch- und Nähnadelfabriken.

Wie mag es dann woanders ausgesehen haben?

Nicht nur die Veränderung in der Berufspalette (zu Beginn der 30er Jahre gab es den Zivil-Ingenieur als Beruf noch nicht - 1831 wurde in Holzminden die erste Baugewerkschule gegründet), auch das rapide Bevölkerungswachstum (1817: 25 Mill. Einwohner in Deutschland; 1850: 35,5 Mill. Einwohner) erzeugte Druck.

Ungleichgewichte herrschten auch zwischen einzelnen regionalen Staaten innerhalb Deutschland. Die Landwirtschaft hatte dort eine Blüte, wo relativ große Einheiten bewirtschaftet wurden. wie z.B. in Niederbayern. Da Brot und Bier Grundnahrungsmittel waren, traf die vermehrte Nachfrage schlecht verdienender Kleinhandwerker und Tagelöhner mit ihren großen Familien auf steigende Preise. Der Weizenpreis erreichte im Durchschnitt in Bayern im Jahre 1839 16 Gulden 50 Kreuzer für 1 Bayer. Scheffel und im Jahre 1847 für die gleiche Menge schon 28 Gulden 30 Kreuzer. Bei Gerste stieg der Preis im gleichen Zeitraum und bei der vergleichbaren Menge von 11 Gulden 40 Kreuzer auf 17 Gulden 30 Kreuzer, das sind hei Wetzen ein Preisanstieg von 69% und bei Gerste um 50% (Gerste - Grundstoff für Bierproduktion).

Im gleichen Gebiet war in den 40er Jahren ein Viertel der Gewebetreibenden verschuldet, die Hälfte konnte gerade den Lebensunterhalt decken, der Rest war wohlhabend. Fabriken im heutigen Sinne gab es kaum; in ganz Bayern gab es im Vormärz nur zwei Betriebe mit mehr als 300 Arbeitern, in München gab es 10 Betriebe mit mehr als 50 Arbeitern: Fünf Textil-, drei Lederbetriebe, die Nymphenburger Porzellanmanufaktur und eine Drahtfabrik. Erst im Jahre 1847 wurde z. B. eine Befugnis zum Verkauf fertiger Kleider in München vergeben.

Daß es wenig Hinweise zum Beginn dieser industriellen Entwicklung in Reisehandbüchern gibt, scheint mir nach und nach verständlicher. Ein bezeichnendes Beispiel ist die erstaunte Bemerkung Murrays über den hohen Bierkonsum in Bayern. In der Distanz des Cicerone erkennt er nicht die Bedeutung als Grundnahrungsmittel. Ähnlich könnte es Baedeker gegangen sein, der die Verkehrsentwicklung als zu nutzendes Instrument beschreibt, aber gesellschaftspolitische Verwicklungen sind kein Thema für Touristen. Das Reisen ist eine angenehme Beschäftigung, die arme Bevölkerung konnte nicht zum Vergnügen reisen, und das zu verkaufende Produkt "Reisehandbuch" hatte die Wünsche der zukünftigen Käufer zu berücksichtigen.

Einige Hinweise finden sich aber doch bei Baedeker, wenn es seinen Berufsstand betraf. Bei der Beschreibung von Augsburg weist er auf das großartigste deutsche Zeitungsinstitut hin, auf die "Allgemeine Zeitung", die in der Cotta'schen Druckerei auf Schnellpressen gedruckt wird; oder zum anderen: "Leipzig ist zugleich Mittelpunkt des deutschen Buchhandels. Es hat selbst 130 Buchhandlungen und 30 Druckereien mit 200 Hand- und 32 Maschinenpressen.“

Die Beschreibung der Schlachtfelder von Leipzig in der gleichen Ausgabe des Handbuches entsprach wohl mehr dem patriotischen Empfinden, das andere Beobachtungen teilweise überlagerte. Dazu gab es einen ausführlichen Führer, im Text nachdrücklich empfohlen.

Die Ironie des Schicksals bescherte dem Ludwigskanal zwischen Kelheim/Donau und Bamberg/Main ein unrühmliches Ende, da die Konkurrenz der Eisenbahn stärker war. Es war eine Lieblingsidee König Ludwig I., diesen Kanal vollenden zu lassen, allerdings gelang das erst 1846, über 10 Jahre nach der Eröffnung der von ihm heftig bekämpften ersten deutschen Eisenbahn. Karl Baedeker erwähnt den Kanal auch schon 1846; 1857 (in der 7. Auflage des Bandes Österreich, Süd- und Westdeutschland) werden genaue Zahlenangaben und Hinweise an sechs Stellen dieses Handbuches gegeben. (in der 16. Auflage von 1873 wird dann im Band Süddeutschland und Österreich von "...in commerzieller und finanzieller Hinsicht fehlgeschlagenes Unternehmen..." gesprochen). Als besonders sehenswert wird der neu erbaute Nürnberger Bahnhof mit einem Stern versehen (1846) bzw. vermittels Fettdruck (1857) hervorgehoben: Industriekultur "zum Anfassen".

Die Entwicklung des Tourismus hatte bei den englischen Nachbarn gegenüber den deutschen Reisenden früher eingesetzt. Th. Cook führte seine erste Gesellschaftsreise im Jahre 1841 durch ("Cook was here!"); im Jahre 1847 erschien der erste Murray von Ägypten. Das erste Reisebüro in Deutschland wurde von Riesel in Berlin 1854 gegründet, Im Jahre 1868 führte Cook seine erste große Gesellschaftsreise in den Nahen Osten durch, während Carl Stangen in Berlin seine ersten Reisen anbot Der erste Ägypten-Reiseführer in deutscher Sprache erschien bei Karl Baedeker im Jahre 1877. Sicherlich hat der Stand der industriellen Entwicklung in England und in Deutschland auch damit zu tun.

Nach 1848 hatte sich in Deutschland der industrielle Kapitalismus einen festen Platz gegenüber den Fürsten geschaffen. Die Industrie wurde zu einem Macht- und Geldfaktor. Gleichzeitig entwickelten sich Konsumvereine (1865: 34 Vereine mit 6647 Mitgliedern - 1880: 195 Vereine mit 94366 Mitgliedern). Der Maschinenexport war im Jahre 1863 zum ersten Mal größer als der Import, in den 50er Jahren entfielen fast 20% der Investitionen auf den Eisenbahnsektor, das reale Volkseinkommen nahm von 1850 bis 1870 um 90% zu, die Eisenbahn verbilligte den Landtransport um bis zu 80% und erweiterte damit die Marktgebiete entscheidend.

Nach Sombart waren die Begriffe "Gewerbemonopol, Stapelrecht, Zunftordnung, Taxordnung, Erbuntertänigkeit" abgelöst worden durch die Begriffe "Gewerbefreiheit, Vertragsfreiheit, Freiheit des Eigentums".

Das Handelsgesetzbuch wurde 1869 zum Reichsrecht erhoben; ein Jahr zuvor hatte Schulze-Delitzsch erreicht, daß im Norddeutschen Bund das Genossenschaftsrecht verabschiedet wurde. Die Masse der in die Fabriken strömenden Bevölkerung verarmte aber immer mehr. Die Veränderung der Einkommensverteilung im 19. Jahrhundert blieb praktisch unbedeutend; selbst im Jahre 1879 hatten noch 51,5% der arbeitenden Bevölkerung im Königreich Sachsen ein Einkommen unter 500 Mark im Jahr.

Umso erstaunlicher erscheint mir daher immer wieder, wie sich in verschiedenen Teilen Deutschlands und Europas der Tourismus entwickelte. Es entstand ein völlig neuer Gewerbezweig, der sich im Zuge der Verkehrserschließung sehr schnell etablierte. Ich meine den Markt der Reisehandbücher, der Reiseliteratur, der Fahrpläne, der Reisemanuale (die Werbeanzeigen von Hotels schon aufnahmen), der Panoramen, der Souvenirs (Andenken an…) in Bädern: Alle als Hilfsmittel für den Touristen. Natürlich wetteiferten viele Verleger um die Gunst der Reisenden, aber wir wissen, daß nur einige wenige Namen heute noch einen guten Klang haben.

Gezwungenermaßen mußte bei der Fülle des Stoffes eine Auswahl, zum Teil stichwortartig, angeboten werden. Vereinfachende Darstellungen an einigen Stellen ließen sich nicht ganz vermeiden. Hie und da ergaben sich stärker subjektive Züge der Auswahl. Trotzdem hoffe ich, daß dieses Referat einen kleinen Einblick in die Zeit geben konnte, in der die aus heutiger Sicht klassischen Reiseführer des modernen Tourismus entstanden.

Quellen:

Karl Baedeker: Handbuch für Reisende in Deutschland... 3, umg, Auflage, Coblenz 1846

Karl Baedeker: Handbuch für Reisende in Deutschland, 7, umg. und verm. Auflage, Coblenz 1857

Karl Baedeker: Süddeutschland und Österreich, 16. neu bearbeitete Auflage, Coblenz u. Leipzig 1873

E. Behm: Die modernen Verkehrsmittel .... Gotha 1867 (Ergänzungsheft No. 19 zu Petermann' s Geographischen Mitteilungen)

W. Blase: Geschichtliche Entwicklung der Weserschifffahrt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Die Weser, Heft 7/6. Jahrg. 1927 bis Heft 2/7. Jahrg. 1928, Bremen 1927/28

K. Borchardt: Grundriß der deutschen Wirtschaftsgeschichte, in: Kompendium der Volkswirtschaftslehre, Rd, 1, 3., neubearb. und erw. Auflage, Göttingen 1972

Braunschweigisches Magazin, 30stes Stück, 26. Juli 1845 (Auszug aus Zollvereinsblatt No. 23): Die deutschen Privateisenbahnen F.A. Brockhaus 1805-1940, Leipzig o.J. (1940)

DGV: Hermann Schulze-Delitzsch, zum 100. Todestag und 175. Geburtstag, Bonn 1983

W. O. Henderson: Die Rolle Preußens bei der wirtschaftlichen Einigung Deutschlands, in: Preußen, Beiträge zu einer politischen Kultur, Bd, 2, Hamburg 1981

C. Hutzelmann: Deutschlands erste Eisenbahn Nürnberg-Fürth, Nürnberg 1885

A. J. Liebl: Die Privateisenbahn München-Augsburg (1835-1844) ., , München 1982, in der Reihe: MCM Heft 103

J. Murray: A Handbook for Travellers on the Continent, 7. ed., London-Paris-Leipzig 1850

J. Murray: A Handbook for Travellers in Southern Germany 7. ed., London-Paris 1855

K. Pohl: Ansichten der Ferne, Reisefotographie 1850-heute, Darmstadt 1983

H. Reiter: Die Revolution von 1848/49 In Altbayern, ihre sozialen und mentalen Voraussetzungen und ihr Verlauf, München 1983, in der Reihe: MCM Heft 109

W. Sombart: Die deutsche Volkswirtschaft im neunzehnten Jahrhundert..., 5. ...Auflage, Berlin 1921

Voith-Werke: 100 Jahre Voith, Erfahrung aus der Vergangenheit, Heidenheim 1967

H. Sarkowski: Das Bibliographische Institut, Mannheim-Wien-Zürich 1976

Zahl der Dampffahrten auf der Strecke Nürnberg-Fürth: Im Jahre 1835: 2516 Dampffahrten, 1862: 9924, 1884: 18716

Bei der Subskription von zwei Millionen Gulden für die Augsburg-Nürnberger Eisenbahn wurde dieses Kapital schon am ersten Tag (3.3.1836) um das Doppelte überzeichnet.

Der "Adler" kostete 13930 Gulden einschließlich des Transportes, der 10% der Gesamtkosten ausmachte. Der Mechaniker Wilson aus England hatte ein vereinbartes Gehalt im Jahr von 1600 Gulden - im Gegensatz dazu erhielt der erste Direktor der Nürnberg - Fürther Eisenbahn 1200 Golden und der höhere technische Beamte als Bezirksingenieur 900 Gulden.

Noch ein paar weitere Zahlen

Gesellen, Tagelöhner und Lehrer erhielten im Vormärz jährlich 150-300 Gulden, Markt- und Stadtschreiber mit abgeschlossener Gymnasialausbildung 300-600 Gulden und rechtskundige Bürgermeister und Landrichter 800-1400 Gulden.

An den Eisenbahnen arbeiteten Kleinbauern, Dienstboten oder Tagelöhner aus den anliegenden Ortschaften. Da sie von persönlicher oder dinglicher Abhängigkeit erst unlängst befreit waren, aber über keinen Grund und Boden oder eigene Werkstätten verfügten, war für sie der Eisenbahnbau ein willkommener zeitweiliger Verdienst. Der Bahnarbeiter verdiente im Jahre 1840 im Durchschnitt 40 Kreuzer pro Tag, ausgenommen sonn- und feiertags. Dagegen gerechnet betrugen seine Lebenshaltungskosten pro Arbeitstag:

Brot 15 kr
Suppe mit Fleisch 8 kr
1 Maß Bier 6 kr
Schlafgeld 2 kr
= 31 kr

Alex Hinrichsen: Anmerkungen zur Wirtschafts- und Verkehrsgeschichte
In "Reiseleben" Sonderausgabe, S. 17-27.
(Holzminden: Ursula Hinrichsen; 1984)
ISBN 3-922293-04-2


Musikalische Bezüge in alten BaedekernTable of contentsWer war Karl Baedeker?

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