Reiseleben, Heft 9 / 1984

Reiseleben und Reiseliteratur

(Fortsetzung und Schluß)

Während die Einführung der Eisenbahnen und Dampfschiffe und die damit in Zusammenhang stehenden Änderungen der Routen, der Umschwung im Hotelwesen und andere Erscheinungen auf die eigentlichen Reisehandbücher nicht ohne den größten Einfluß blieben und bleiben konnten, rief dieser Reiseverkehr auf Dampfschiffen und Dampfwagen in den Ländern, wo er sich am mächtigsten entwickelte, einen ganz neuen Literaturzweig, die Reisebibliotheken ins Leben - Reisen und Sammlungen von Schriften, die bestimmt sind, den Reisenden während der Reise selbst zur belehrenden oder unterhaltenden Lectüre zu dienen. Hatte auch außerhalb Englands diesem oder jenem unternehmenden und auf die im Publicum neu erwachten Bedürfnisse sein Augenmerk richtenden Buchhändler eine ähnliche Idee vorgeschwebt, so war es doch begreiflich, daß sie zuerst in England realisiert wurde, weil hier der Reiseverkehr durch den gewaltigen Factor des Dampfes sich am lebhaftesten und in den großartigsten Dimensionen entwickelt hatte und der Engländer, eine in sich abgeschlossene und sich unbekannten Mitreisenden nicht leicht erschließende Natur, im Allgemeinen mehr als andere Nationen das Bedürfniß fühlt, sich auf längern Reisen mit Lectüre zu beschäftigen und hinter seiner Zeitung oder seinem Buche erst recht gegen seine Reiseumgebungen zu verschanzen. Und zwar verdankt dieser Zweig der Literatur seine Entstehung in England der Anregung keines Geringern als Macaulay, der zuerst begriff oder doch zuerst den Gedanken lautwerden ließ, daß die Eisenbahn- und Dampfschifflinien auch ein neues und vorzügliches Communikationsmittel für Ausbreitung und Förderung geistiger und literarischer Bildung abgeben könnten. Solche praktischen Ideen überlassen deutsche Gelehrte in der Regel den Buchhändlern, während englische Gelehrte, deren Sinn sich mehr auf ein gemeinnütziges Wirken richtet, in den vielleicht meisten Fällen die Initiative ergreifen und dem Buchhändler dann die Ausführung übergeben:

Die nahestehenden Motive zur Entstehung dieser Reisebibliotheken sind wol am genügendsten in dem Prospect zu "Brockhaus' Reise-Bibliothek" - einem Unternehmen, von dem später die Rede sein wird - zusammengefaßt worden. Es dürfte daher genügen, folgende Stelle daraus hier anzuführen: "Eisenbahnen und Dampfschiffe haben auf das Leben der Völker den unermeßlichsten Einfluß geübt und üben ihn fortwährend in immer gesteigertem Grade. Der Verkehr hat sich dadurch zu staunenswerther, früher kaum geahnter Höhe entwickelt. Jedermann reist jetzt zehn mal häufiger und weiter als sonst, Jeder erlebt weit mehr als früher in gleicher Zeit. Die Zeit hat dadurch erhöhten Werth erhalten: sie ist um so kostbarer geworden, je mehr sich in ihr erreichen läßt. Und doch, während bei der jetzigen raschen Art zu reisen soviel Zeit erspart und gewonnen wird, geht gerade dabei wiederum viel Zeit verloren. Auf den frühern langsamern und gemüthlichern Reisen wollte und konnte man von Beginn derselben an alles sich Darbietende ruhig genießen. Jetzt eilt man oft Hunderte von Meilen durch wenig interessante oder oftgesehene Gegenden, um erst dann eine genußreiche Reise zu beginnen. Früher unterhielt sich die Reisegesellschaft viel miteinander, man schloß sich bald näher an seine Mitreisenden an. Jetzt ist ein längeres Gespräch auf der Eisenbahn bei dem Rasseln der Wagen fast unmöglich. Und wenn wir uns dann stumm gegenüber sitzen, wenn die Reisegesellschaft uns nicht anregt, wenn schlechtes Wetter uns stundenlang in die Kajüte eines Dampfschiffs verbannt, werden wir uns da nicht oft von tödtlicher Langeweile geplagt, von Ärger erfüllt über den Verlust der kostbaren Zeit? Aber es gibt ein Mittel gegen diese "kleinen Leiden" des menschlichen Lebens und Reisens, die uns den ganzen Reisegenuß verleiden können und dies ist: interessante Reiselectüre.

Die durch Macaulay's Scharfblick zuerst angeregte Idee wurde fast gleichzeitig durch zwei londoner Buchhändler, Longman und Murray, realisirt, indem jener seine "Traveller's library, dieser die "Readings for the rail" begründete. Der Plan beider Unternehmungen ist insofern verwandt, als beiden eigentlich gar kein Plan zugrunde liegt. Longman 's Reisebibliothek brachte bisher zum größten Theil ältere Werke von Werth, die Essays von Macaulay, dann Reisen in alle Welttheile, Biographien, Geschichtswerke, Übersetzungen von Romanen und Erzählungen, kurz meist Werke von allgemein unterhaltendem oder belehrendem oder gemischten Charakter, aber nur wenige, die auf das specielle Interesse der Reisenden direct Bezug nehmen. Ebenso besteht die Murray'sche Reisebibliothek meist aus zum Theil sehr interessanten Werken, welche ebenso gut zu Hause als während der Reise gelesen werden können. Beide Verleger scheinen namentlich den Zweck zu verfolgen, Werke ihres Verlags von meistbleibendem Werth in so billigen Ausgaben, als vor ihnen noch nicht bestanden, unter das Publicum zu bringen. Außerdem setzen auch Arthur Hill, Virtue und Comp, ein "Railway reading" und Routledge eine "Railway library" ins Leben, beide ebenfalls meist gemischten Charakters und ohne auf eigentliche Reisezwecke Rücksicht zu nehmen. Der Reisebibliothek von Hall ist unter Anderm eine Übersetzung von Wilhelm von Humboldt's "Briefen an eine Freundin" unter dem Titel "Humboldt's letters to a lady" einverleibt worden; die von Routledge brachte meist Erzählungen und Romane, oder überhaupt Schriften rein unterhaltender Gattung. In England braucht man aber den Leuten nur zu sagen: das sind Bücher, die man auf Eisenbahnen lesen muß! und man kauft und liest sie, weil man denkt, es müsse so sein. Daher haben auch einige dieser englischen Reisebibliotheken die glänzendsten Geschäfte gemacht.

Dagegen ist die von der Pariser Buchhandlung L. Hachette und Comp. unternommene und auf 500 Bändchen berechnete "Bibliothèque des chemins de fer" nach einem bestimmten Plane angelegt und, wie es im Prospect heißt, dazu bestimmt, den Reisenden ihre gezwungenen Mußestunden während der Reise vertreiben zu helfen, ihnen über Alles, was sie längs der Route und in den Stationsorten interessieren könnte, genaue und vollständige Auskunft zu verschaffen, sie überhaupt anständig (honnetement) zu amüsiren und zugleich zu belehren. Die Schriften, welche Hachette bringt, vertheilen sich gruppenweise unter folgende Rubriken: eigentliche Reisehandbücher oder Guides des voyageurs; Geschichts- und Reisewerke; französische Romane, Theaterstücke, Poesien; Übersetzungen aus fremden Sprachen; Schriften, welche Ackerbau, Industrie, Erfindungen und Entdeckungen betreffen; endlich sogar Bilderbücher für Kinder, damit diese hübsch ruhig bleiben und den Erwachsenen während der Reise nicht lästig werden. Erwähnenswerth ist die zwischen Hachette und Comp. einerseits und den sämmtlichen Eisenbahnverwaltungen Frankreich andererseits im Jahre 1852 getroffene Vereinbarung, wonach jenen für 18 Jahre das ausschließliche Recht zusteht, alle Arten literarischer und buchhändlerischer Erzeugnisse, die möglicherweise von den auf Eisenbahnen Reisenden gekauft werden können, auf den Eisenbahnstationen entweder selbst oder durch ihre Bevollmächtigten zu verkaufen. Dieses Recht aber üben die Unternehmer in der Weise, daß sie auf den Hauptstationen kleine Contors errichten, in denen durch direct von ihnen Angestellte, welche überall freie Fahrt auf den Eisenbahnen haben, ihre Bücher feilgeboten werden. Die Unternehmer bedienen sich nirgends der Vermittelung anderer Buchhändler, alle mit dieser Entreprise verbundenen Geschäfte gehen von ihnen direct aus. Dem Staate gegenüber sind die Unternehmer, nach dem Ausspruche der Behörde, einzig und allein dem Gesetze der Colportage unterworfen und durch dasselbe beschränkt. Diese eine Art Monopol in sich schließende Organisation eines derartigen Unternehmens dürfte in einem andern Lande als Frankreich kaum möglich sein. Auch blieb eine Opposition gegen jene Organisation des Hachette'schen Unternehmens nicht aus, wie die von Napoleon Chaix verfaßte Broschüre beweist: "Simple note sur le droit accordé à M. Hachette de vendre des livres dans les gares et stations des chemins de fer." Es wird darin entwickelt, daß der zwischen Hachette und den Eisenbahnverwaltungen geschlossene Vertrag ein Privilegium und Monopol in sich schließt, dem der Rechtsboden mangele, weil er dem freien Betriebe des Buchhandels, namentlich durch die Ausdehnung des Verkaufs auf alle möglichen Zweige der literarischen Production, eine "grave atteinte" versetzen würde. Hachette ist gegen diese Auffassung der Sache eine "Réponse" nicht schuldig geblieben.

Auch in Brüssel bei Vanderauwera erscheint eine "Bibliothèque des chemins de fer. Bibliothèque diamant" und zwar im kleinsten Miniaturformat, in einem "format poche de gilet", fast zu klein für Augen und Hände. Ihre Schriften stellen ein buntes Allerlei dar: Memoiren, Reisebeschreibungen, Biographien, Theaterstücke, historische Schriften, Sonderabdrücke von interessanten Artikeln aus den gelesensten französischen und englischen Revuen. Als merkwürdig verdient hervorgehoben zu werden, daß selbst in Rußland, wo das Eisenbahnwesen noch so wenig entwickelt ist, eine Bibliothek für Dampfschiffe und Eisenbahnen erscheint, eine Sammlung von alten und neuen Romanen, Märchen und Erzählungen, theils Originalarbeiten, theils Übersetzungen. Indeß mögen gerade mancherlei Umstände, die Interesselosigkeit der Gegenden und Ortschaften, die weiten Entfernungen der Stationen, dann überhaupt ein Lesebedürfniß, welches sich infolge der strengen Censur und der verhältnißmäßig wenig entwickelten literarischen Thätigkeit nicht genügend befriedigt sieht, diesem Unternehmen zu Hülfe kommen; wie sich daraus zu ergeben scheint, daß von dieser russischen Reisebibliothek schon vor einiger Zeit gegen 100 Bändchen in Sedez erschienen und die Fortsetzung derselben angekündigt war.

Wie nun aber in Deutschland? Man sollte meinen, daß in dem durch Bildung, Wissenschaft und Literatur ausgezeichneten Deutschland derartige Unternehmungen die größte Theilnahme und eine rasche und volle Entwicklung aufzeigen sollten. Allein gerade in Deutschland hat die Begründung solcher Unternehmungen aus verschiedenen Ursachen mit mehr Schwierigkeiten zu kämpfen als anderswo. Der Absatz von Schriftwerken an das flüchtige Reisepublicum bedarf zuvörderst gewisser fester Einrichtungen, deren Herstellung nicht nur von der Bemühung des Unternehmers, sondern auch von dem guten Willen der öffentlichen Behörden, der Verwaltungen von Eisenbahn- und Dampfschiffahrtsgesellschaften u.s.w, abhängig ist. Eine monopolistische Organisation des Schriftenverschleißes, wie solche auf den französischen Eisenbahnen besteht, wird freilich kein Einsichtsvoller wünschen; ja diese wäre auch in dem getheilten Deutschland wol geradezu unmöglich. Dennoch müssen, sollen die Schriften bequem und regelmäßig den Reisenden dargeboten werden, gewisse Einigungen zwischen den Verwaltungen und den Unternehmern bestehen, ohne daß damit jede Concurrenz abgeschnitten sein dürfte. Dergleichen Übereinkommen stoßen aber in Deutschland bei öffentlichen wie bei Privatbehörden auf mancherlei Hindernisse, die im Ganzen ein seltsames Miswollen gegen literarische Unternehmungen überhaupt voraussetzen lassen könnten. In Nordamerika, wo man stets das Praktische herausfindet, bestehen zwischen den Verkäufern von Schriften für Reisende und den Verwaltungen von Reiseanstalten, namentlich auf den großen Routen, gewisse Übereinkommen, welche den bequemen und regelmäßigen Verschleiß jener Schriften trefflich sichern. Beim Abgange eines Dampfschiffs oder eines Eisenbahnzuges erscheint hier ein berechtigter Verkäufer unter den Reisenden und bietet seine Schriften an, die gewöhnlich fürs erste in Zeitungen bestehen. Während der Fahrt, in gewissen Zeitabschnitten, wiederholt derselbe Verkäufer sein Angebot, nur mit dem Unterschiede, daß er, je nach der Dauer der Fahrt, mit der Gattung der Schriften wechselt, insbesondere von den leichter verständlichen, unterhaltenderen zu denen übergeht, welche mehr den Ernst und die Aufmerksamkeit des Lesers in Anspruch nehmen. So wird das zahlreiche Reisepublicum ohne große Umstände und Mühe mit einer zweckmäßigen Lectüre versehen, welche die Langeweile verscheucht und den Geist des Reisenden angenehm und nützlich beschäftigt. Freilich ist diese Schriftencirculation insofern begünstigt, als auf den amerikanischen Eisenbahnzügen die Communication der einzelnen Waggons untereinander während der Fahrt, vermöge der innern Einrichtung, aufrechterhalten bleibt. Eine nicht unbedeutende Beschränkung im Absatz von Reiseschriften erwächst deutschen Unternehmern ferner daraus, daß die deutsche Sprache von Ausländern nicht so ausgebreitet bekannt ist wie die beiden andern Weltsprachen (das Englische und Französische), daß also die fremden Reisenden deutsche Schriften wenig oder gar nicht kaufen. In Bezug auf das deutsche Reisepublicum selbst kommen aber ebenfalls noch sehr eigenthümliche Verhältnisse in Betracht. Wiewol der Deutsche seiner Natur nach das Wandern von jeher und vorzugsweise geliebt hat, ist doch das Reisen im modernen Stil bei uns neuesten Datums und geht mit der Ausbildung des Verkehrs und seiner Anstalten erst seiner größern Entwicklung entgegen. Der großen Reiserouten, die mehr als die Dauer einiger Stunden oder eines halben Tages in Anspruch nehmen, waren bisher nur wenige; ja Reisen zu Wasser, auf denen sich dem Reisenden am meisten das Bedürfniß nach Lectüre geltend macht, sind in unsern Binnenländern nur in sehr beschränkter Weise möglich. Rechnen wir die eigentlichen Geschäftsreisenden ab, so besteht das große Reisepublicum Deutschlands zum überwiegenden Theile aus Reisenden, die nur kurze Erholungs- und Vergnügungsfahrten machen und sich auf denselben, selbst auf den Eisenbahnen, am liebsten der Beobachtung der vorübergleitenden Landschaft, der in sich gekehrten Betrachtung oder der geselligen Conversation hingeben. Es liegt diese Art des Reisens wie der Unterhaltung theils in unserm bürgerlichen Kleinleben, theils auch, und dies soll durchaus kein Tadel sein, in unserm Nationalcharakter. Nur der an Zahl geringere Theil des Reisepublicums wird darum in Deutschland während der Reise das Bedürfniß nach Lectüre empfinden, und Unternehmer von Reisebibliotheken, wie sie in Frankreich und namentlich in England bestehen, haben diesen Umstand sicherlich ins Auge zu fassen. Eine deutsche Reisebibliothek, soll sie die nöthige Theilname finden und einen der Bildungsstufe der Nation angemessenen Charakter bewahren, muß unsers Erachtens zugleich auch für das nichtreisende Publicum berechnet sein, d.h. sie muß zugleich alle Eigenschaften einer guten Volksbibliothek besitzen, die tüchtige, Verstand und Gemüth bildende Schriften jeder Art in handlichem Format und zu den billigsten Preisen ins große Publicum fördert. Selbst in England haben die oben genannten Unternehmer von Reisebibliotheken diesen Gesichtspunkt mit Erfolg festgehalten und dadurch zur Verbreitung ebenso nützlicher wie billiger Schriften unter die Masse des Volks im größten Maßstabe beigetragen.

Dieser Gesichtspunkt scheint namentlich auch bei "Brockhaus' Reise-Bibliothek" obgewaltet zu haben, die wir deshalb auch zuerst nennen. Schon die geachteten Namen der Verfasser, welche dazu beisteuerten, beweisen, daß es sich dabei um Schriften handelt, welche keinen blos momentanen Werth beanspruchen. Es sind sämmtlich Autoren, die schon mit ihren Namen für den Werth ihrer Arbeiten einstehen. Zwar zum größten Theile haben diese Reisebücher den Zweck, vor allem Schilderungen und Charakteristiken der von den verschiedenen Routen durchschnittenen oder berührten Gegenden und Ortschaften Deutschlands, ihrer Bevölkerungen, Sehenswürdigkeiten und historischen Erinnerungen zu geben. Aber diese topographisch - ethnographischen Schilderungen, wenn auch bestens geeignet, dem Publicum während der Reise in vielen Fällen gleichzeitig den Dienst von Reisehandbüchern zu leisten oder als Vorbereitung zur Reise benutzt zu werden, haben doch auch andererseits wieder einen so allgemein schildernden, durch Inhalt belehrenden und durch Form und Darstellung unterhaltenden Charakter und sind von so selbständiger Bearbeitung, daß sie für ihren Besitzer auch einen bleibenden Werth behaupten, ja in Betreff so mancher Landstriche des deutschen Vaterlandes als Quellen zur genauern Kenntniß von Land und Volk, Sitte und Sagen gelten können. In ihrer Gesammtheit stellen sie daher eine Bibliothek dar, welche nicht blos dem Reisenden gute Dienste leisten wird. Bei der Wahl ihrer Verfasser ist sowol auf deren Befähigung für gediegene und geschmackvolle Darstellung als auf ihre genaue Bekanntschaft mit den Landstrichen oder Routen, deren Behandlung ihnen anvertraut wurde, Rücksicht genommen. Zum Beweise hierfür mögen folgende bisher erschienene Bändchen genannt sein: "Eine Eisenbahnfahrt durch Westfalen" von Levin Schücking, der, ein gründlicher Kenner der "rothen Erde", uns ein Gesammtbild dieses in vieler Hinsicht so merkwürdigen altsassischen Gaus gibt und ihn uns, unter Einflechtung vieler aus Stadt- und Familienchroniken geschöpften, wenig bekannten Geschichten, historisch, geographisch und ethnographisch näherrückt; "Von Minden nach Köln. Schilderungen und Geschichten", ebenfalls aus der Feder Levin Schücking's und eine Ergänzung zur ersten Schrift bildend; "Der Rhein von Mainz bis Köln" und "Das Moselthal von Nancy bis Koblenz", beide von Nikolaus Hocker, letzteres mit besonderer Berücksichtigung der Alterthümer und architektonischen Kunstdenkmale des ehrwürdigen Trier wie der Localsagen, auf deren Gebiete der Verfasser besonders einheimisch ist; "Die Donau von Ulm bis Wien" von Adolf Schmidl: "Breslau und die Schlesischen Eisenbahnen" von Max Kurnik, von dem mannigfaltigsten, geschichtliche Erinnerungen, Sagen und Schilderungen von Land und Volk, Städten und Gegenden aufs unterhaltendste verschmelzenden Inhalt; "Die thüringische Eisenbahn" von Adolf Bock; "Das hessische Land und Volk. Für Reisende von Eisenach nach Kassel und Frankfurt a. M." von Emil Müller, der dem Leser darin ein auch mit statistischem Material reich ausgestattetes Gesammtbild des hessischen Landes, seines Volks und seiner Geschichte vorführt; "Von Frankfurt a. M. nach Basel. Eisenbahnfahrt und Wanderungen im süddeutschen Rheinland" von Aurelio Buddeus; "Von Berlin nach Hamburg" von Ernst Willkomm, welche Schrift zugleich eine umfassende Charakterschilderung Hamburgs und Lübecks enthält; "Das Schlesische Gebirge" von Rudolf Gottschall, wie die Schrift "Die Böhmischen Bäder" von Siegfried Kapper auch besonders Badereisenden zu empfehlen. Specielle Städtebilder gaben, außer Willkomm von Hamburg und Lübeck und Max Kurnik von Breslau in ihren oben genannten Schriften, J.E. Horn in "Brüssel nach seiner Vergangenheit und Gegenwart", eine gediegene Schrift, welche die gründlichste Bekanntschaft mit den Verhältnissen Belgiens und seiner Hauptstadt beurkundet; Wolfgang Müller in seinem "Münchener Skizzenbuch", worin dem Leser nicht nur die Kunstbauten und Kunstwerke Münchens, sondern auch die berühmtesten Künstler, Schriftsteller und Gelehrte Münchens vorgeführt werden; F. Gustav Kühne in seinen Schriften "Wien in alter und neuer Zeit" und "Prag. Böhmisch, Deutsch und Czechisch". Von einem bestimmten Reisezwecke absehend, schildert ferner die früh verstorbene Dichterin Marie Förster in den "Briefen aus Südrußland" in ansprechender und pittoresker Weise, was sie in den so vieles Fremdartige bietenden russischen Provinzen Podolien, Volhynien und der Ukraine Interessantes sah und erlebte. Wer auf seinen Reisen nachfühlen will, was unsere Dichter auf ihren Wanderungen empfunden haben, der greife zu Josef Rank's "Poetischem Reise-Album". Von demselben Verfasser rührt die interessante Schrift "Schillerhäuser" her, eine detaillierte Schilderung der Wohnstätten Schillers, die sich zugleich von selbst zu einer Biographie des gefeierten Dichters und einer Charakteristik seines Wirkens und seiner Werke gestaltet und allen Verehrern Schiller's mit Recht empfohlen werden darf. Wer sich auf den blutgetränkten Schlachtfeldern in den Umgebungen Leipzigs orientiren will, dem wird Karl Gustav von Berneck mit seiner Schrift "Die Schlachten bei Leipzig" ein verläßlicher Führer sein, und der Besucher des Harzes wird Heinrich Pröhle's "Harzbilder: Sitten und Gebräuche aus dem Harzgebirge", wie der Besucher Venedigs die Schilderung "Casanovas Flucht aus den Bleikammern von Venedig" mit Interesse lesen. Für humoristische Unterhaltung sorgt Friedrich Gerstäcker in der ergötzlichen Erzählung "Herrn Rahlhuber's Reiseabenteuer" und Ernst Kossak in seinen "Schweizerfahrten". Kaum aber dürfte sich eine Schrift gerade auf Reisen mit so großem Interesse lesen lassen wie die Auswahl von Criminalgeschichten von Willibald Alexis unter dem Titel "Reise-Pitaval". Aus dem Vorwort zu dieser Schrift möge hier eine Stelle mitgetheilt sein, die den Contrast zwischen dem Comfort des jetzigen und den Unbehaglichkeiten und Gefährlichkeiten des frühen Reisens so prägnant als möglich charakterisirt. "Kein Highwayman kann uns auf der Krümmung der einsamen Landstraße mehr entgegensprengen; das Pfeifen der Locomotive, wie schrill und ohrzerreißend es auch klinge, ist doch nicht das Pfeifen aus dem Busche, worauf zwei Kerle vorspringen, die Pferde am Zügel fassend, und doppelt so viel an die Wagenthüren, um uns zum Aussteigen zu nöthigen, oder gar in die Berge zu schleppen. Endlich, wo sind die verdächtigen Herbergen im Walde, wo wir die Thüren aus Angst verrammeln möchten und doch mit Bangigkeit ins Bett steigen, weil es unter uns im Boden versinken könnte? Alles Das ist in die Nebel der Vorzeit versunken; und daß sich ein eleganter Gauner vielleicht an unsere Seite nestelt, ein Anschlag im Bahnhofe vor Taschendieben warnt, oder ein gewissenloser Schaffner sich in den Packwagen verschließen läßt, um mit Dietrich und Feile die Felleisen der Passagiere zu öffnen, sind doch nur seltene Ausnahmefälle und reichen den Reiseabenteuern unserer Väter nicht das Wasser. Sollte es da nicht angenehm sein, wenn wir uns in den schwellenden Kissen schaukeln, in der bequemen Ecke eingenestelt haben und der liebe Gott und die Polizei für uns sorgen, der Bahnverwaltung und den Conducteuren die Vormundschaft überlassend, an die Zeiten zu denken, wo uns auf jeder Straße ein Buschklepper die Pistole vorhalten durfte, jeder Gastwirth, bei dem wir zu nächtigen gezwungen waren, eine verdächtige Person war?"

Ein Seitenstück und eine Ergänzung dieses Unternehmens bildet "Brockhaus' Reise-Atlas. Entworfen und gezeichnet von Henry Lange", bestehend aus ebenso geschmackvoll und sauber wie genau und correkt gearbeiteten Eisenbahn-, Flußkarten und Stadtplänen, von denen die erstern zugleich die pittoreskesten Punkte der betreffenden Route, merkwürdige Eisenbahnbauten u.s.w., die letztern die vorzüglichsten Gebäude und Kunstdenkmale der Städte in zierlich in Stahl ausgeführten Ansichten zur Anschauung bringen, und so theils zur Orientirung, theils als Erinnerungsblätter dem Reisenden willkommen sein müssen.

Ganz anderer Art, obgleich jede in ihrer Weise verdienstlich, sind J.J. Weber's "Illustrirte Reisebibliothek" und C.B. Lorck's "Conversations- und Reisebibliothek". Jene sieht es ausschließlich darauf ab, "durch Schilderung der Länder und Städte, wohin der Zug der Reisenden sich vorzüglich richtet, und durch Beschreibungen von Gegenständen, welche mit den Tagesfragen in Beziehung stehen, anmuthig geordnete, zugleich erfreuende Lectüre zu bieten". Die Bände, aus denen die Reisebibliothek besteht, sind daher im eigentlichsten Sinne Reisehandbücher, "Handbooks", "Guides des voyageurs", dadurch mit dem Jahn'schen verwandt, daß sie zugleich Illustrationen bringen, aber von diesem abweichend, indem sie specielle Landstriche und Localitäten, wie Paris, Helgoland, das Elbthal, die Schweiz, Sydenham u.s.w., zum Gegenstande haben. Die Lorck'sche Reisebibliothek trägt mehr den Charakter von Murray's "Readings for the rail" und Longman's "Traveller's library" da sie aus Schriften zusammengesetzt ist, welche auf das specielle Interesse des Reisenden kaum Rücksicht nehmen. Der eigentliche Körper dieser Lorck'schen Reisebibliothek besteht aus Übersetzungen meist sehr interessanter ausländischer Werke zeitgeschichtlichen, zum Theil nur unterhaltenden Charakters. Doch bringt sie, wenn auch selten, einzelne Originalarbeiten, unter denen namentlich August Diezmann's Schrift "Leipzig" hervorgehoben werden dürfte. Eine von Otto Wigand unter dem Titel "Reiselectüre" versuchte Unterhaltungsbibliothek für Reisende ist nicht fortgesetzt worden, und auch von einer "Humoristischen Eisenbahn- und Reisebibliothek", die sich durch ein witziges Heftchen von Adolf Glaßbrenner, "Erfrischungen"', einführte, sind unsers Wissens keine weitern Fortsetzungen erschienen. Indeß, wer ein paar Schalksnarren zu Reisebegleitern haben will, wird sie, außer an Gerstäcker’s "Mahlhuber", an den bekannten Herren Müller und Schulze erlangen, die ihn in der Weise des "Kladderadatsch" durch die Erzählung ihrer Reiseabenteuer unterhalten sollen.

Der Buchhandel hat es somit auch in Deutschland nicht fehlen lassen, den Reisenden zur Ausfüllung langweiliger Mußestunden literarischen Nahrungsstoff mannichfaltigster Art anzubieten, und möglicherweise kann er sich durch weitern Anbau dieses Feldes das Verdienst erwerben, der Verflachung und Abstumpfung entgegenzuwirken, womit Geist und Gemüth bei der jetzigen Art zu reisen bedroht sind.

Soweit dieser Aufsatz in zwei Teilen aus dem Jahre 1857, kaum etwas mehr als 20 Jahre nach der Fahrt der ersten Eisenbahn in Deutschland und noch zu Lebzeiten von Karl Baedeker.

Reiseleben und Reiseliteratur
In "Reiseleben" Heft 9, S. 13-20.
(Holzminden: Ursula Hinrichsen; 1984)
ISBN 3-922293-05-0


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