Reiseleben, Heft 10 / 1985

Ludwig Pohle:

Die Umgestaltung des Verkehrswesens und die Wandlungen in der Organisation des Warenabsatzes

Auszug aus dem Buch "Die Entwicklung des deutschen Wirtschaftslebens im 19. Jahrhundert", erschienen im Jahre 1904 in der Reihe "Aus Natur und Geisteswelt", Band 57.

Von den Zuständen, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch im Güter-, Personen- und Nachrichtenverkehr herrschten, können wir uns heute nur schwer noch eine richtige Vorstellung machen. Eigentlich nur die Segelschiffahrt ermöglichte damals den Transport von Waren auf größere Entfernungen. Binnenländer ohne recht brauchbare Wasserwege, wie z.B. Altbayern und Österreich, waren infolgedessen der Weltkonkurrenz fast ganz entrückt und führten in beschaulicher Weise ein wirtschaftliches Sonderdasein. Aber auch in Gebieten, die von der Natur besser ausgestattet waren, war der Güterverkehr nur äußerst schwach entwickelt und erstreckte sich in der Hauptsache bloß auf hochwertige Gegenstände. Diejenigen Waren dagegen, die heute die Hauptobjekte des Warentransportes bilden und an deren Beförderung die Eisenbahnen am meisten verdienen, die Artikel des Massenverbrauches wie Kohle, Eisen, Holz, Getreide usw. konnten damals regelmäßig nur auf geringe Entfernungen verschickt werden. Hat doch Adam Smith seine Gegnerschaft gegen Getreidezölle in erster Linie nicht mit grundsätzlichen sozialpolitischen Bedenken motiviert, sondern er hat Getreidezölle einfach für überflüssig erklärt, weil auch bei sehr hohen Getreidepreisen wegen der Kostspieligkeit des Transportes selbst in ein rings vom Meer umgebenes Land wie Großbritannien immer nur sehr wenig Getreide eingeführt werden könne. Große Städte, die für ihre Versorgung mit Nahrungsmitteln ein größeres Zufuhrgebiet als den Umkreis von 1 bis 2 Tagereisen erforderten, waren infolge dieser Umstände bis in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts nur am Meere oder an schiffbaren Binnenwasserstraßen möglich. Auch heute noch zehrt sich ja der Wert des Weizens beim Transport auf einer gewöhnlichen Landstraße schon bei einer verhältnismäßig geringen Entfernung vollständig auf. Für Rußland hat man berechnet, daß dort nur diejenigen Getreideproduzenten am Export sich beteiligen können, deren Entfernung von der nächsten Eisenbahnstation höchstens 60 km beträgt, wenn nicht der billige Wasserweg zur Verfügung steht.

Noch mehr erschwert als der Landtransport von Getreide war in früherer Zeit der der geringwertigen Massengüter Kohle, Eisen und Holz. In Rheinland-Westfalen kostete zur Zeit des Baus der ersten Eisenbahnen die Beförderung einer Tonne Kohlen durch Frachtfuhrwerk 40 Pfennige für 1 km. Auf den Eisenbahnen kostete die Kohlenfracht anfänglich 13 bis 14 Pfennige für 1 tkm. Bald gingen die Beförderungspreise aber immer mehr zurück und die heutige regelmäßig erhobene Fracht beträgt 2 1/5 tel Pfennig. Die Sätze der Ausnahmetarife gehen bei Kohlen sogar bis auf 1 1/4 tel Pfennig für den tkm herunter. In gleicher Weise ist bei Roheisen und Getreide eine fortschreitende Ermäßigung von 40 bis auf 2,2 Pfennig und weniger eingetreten. Die Kosten der Beförderung dieser Massengüter sind also im Laufe des Jahrhunderts nach und nach auf rund den 20. Teil des anfänglichen Betrags gesunken. Ähnlich kostspielig wie der Warentransport war in früherer Zeit auch das Reisen, wenn man sich nicht nach dem Beispiel des Dichters Seume zu einer Fußwanderung entschließen konnte. Auch in den Kreisen des Mittelstandes ist ja jetzt eine Reise nach der Schweiz oder nach Italien oder auch nach den nordischen Ländern etwas ganz Gewöhnliches. Vor hundert Jahren dagegen war das Reisen ein Luxusvergnügen, das sich wegen der hohen Kosten nur reiche Leute gestatten konnten. Nach den Angaben des Professor Schlözer in Göttingen betrugen z.B. am Ende des 18. Jahrhunderts die Kosten einer Reise von Leipzig nach Frankfurt a. M. 420 Mark, während man jetzt für den 15. oder 16. Teil dieser Summe sehr bequem in der Eisenbahn von Leipzig nach Frankfurt fährt. Die hohen Kosten des Reisens in der früheren Zeit rühren vor allem daher, daß man mit der Post eine Woche brauchte, um die Strecke Leipzig-Frankfurt zurückzulegen und daher etwa sechsmal im Gasthof übernachten mußte. Die taxmäßigen Fahrpreise in der Kaiserlichen Post selbst waren nicht allzu hoch, sie entsprachen etwa dem heutigen Eisenbahnfahrpreis I. Klasse, wozu sich allerdings noch allerlei Ausgaben für Trinkgelder usw. gesellten.

Dabei war der Zustand der Landstraßen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert in Deutschland noch herzlich schlecht. Hat doch ein Prinz, der Ende des 18. Jahrhunderts durch Kursachsen reiste, auf dieser Tour nicht weniger als 25 Wagenräder zerbrochen. Zum Glück führte er aber als vorsorglicher Mann einen ganzen Wagen voll Ersatzräder mit sich. Wurde schon hierdurch das Reisen nicht gerade zu einem Vergnügen gemacht, so kamen als weitere erschwerende Momente die unbequeme Einrichtung der Postwagen und die Langsamkeit der Beförderung hinzu. Gerade auf diesem Gebiet hat das Verkehrswesen indessen sehr bald im 19. Jahrhundert erhebliche Fortschritte gemacht. Hier sind namentlich die in Preußen seit 1821 eingeführten sog. Naglerschen Schnellposten zu erwähnen, die eine Kurierbeförderung der Reisenden in bequemen Wagen darstellten. Die Einführung dieses neuen Schnellpostverkehrs hat auf die damals lebende Generation einen fast ebenso starken Eindruck gemacht, wie ihn dann zwei Jahrzehnte später die Eröffnung der ersten Eisenbahn hervorrief.

In Süddeutschland war schon im 18. Jahrhundert viel zur Verbesserung des Postwesens getan worden. Man reiste in den süddeutschen Posten nach der Schilderung von Biedermann, der ich hier folge, wesentlich schneller als in den norddeutschen. In Süddeutschland war es die Regel, daß man zwei Meilen in 1 1/2 Stunde fuhr und auf den Stationen kaum 10 bis 15 Minuten Aufenthalt hatte. So konnte man in Süddeutschland an einem Tag, wenn es gut ging, 15 bis 18 Meilen zurücklegen, was, wie ein Reiseschriftsteller jener Zeit bemerkt, "in Norddeutschland ganz unglaublich scheint". In Federn hängende Postwagen kamen aber auch in Süddeutschland erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf, man hatte indessen in Süddeutschland vorher doch schon bedeckte Postwagen mit gepolsterten Sitzen gehabt, während man in Norddeutschland noch Anfang des 19. Jahrhunderts auf offenen Karren mit ungepolsterten Sitzen fuhr, die oft nicht einmal eine Lehne hatten. Daß man im Süden rascher fuhr, dazu trug auch der bessere Zustand der Straßen bei. Wirklich gute Straßen, sog. Dammwege, gab es allerdings auch im Süden nur auf bestimmten Routen, so von Frankfurt nach der Schweiz und von Frankfurt nach Wien. Allein die Straßen waren in Süddeutschland doch immer noch besser als im Norden. Am längsten blieb in dieser Hinsicht Preußen zurück. Preußen hat erst 1787 die ersten Chausseen erhalten. Freilich schreibt man auch Friedrich dem Großen die bezeichnende Äußerung zu: je schlechter die Straßen, desto länger mußten die Fuhrleute im Lande verweilen und desto mehr Geld ließen sie darin zurück

Der Ausbau des deutschen Landstraßennetzes ist in der Hauptsache erst im 19. Jahrhundert erfolgt. Hat man doch auch erst an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert durch den Schotten Mac Adam die Kunst wieder gelernt, wirklich gute und haltbare Chausseen zu bauen, deren Kenntnis seit der Römerzeit verloren gegangen war. Einer der Hauptförderer des Straßenbaues in Deutschland ebenso wie in Frankreich ist Napoleon I. gewesen. Ihn leiteten hierbei natürlich wesentlich militärische Rücksichten. In Preußen sind dann weiter namentlich in den 30er und 40er Jahren viele neue Straßen angelegt und bestehende verbessert worden. Es ist ein eigentümlicher Zufall, daß die Hauptära des Straßenbaues in Deutschland also in die Zeit unmittelbar vor Beginn der Eisenbahnbauten fällt. Im Grunde ist darin freilich kein Zufall, sondern eine volkswirtschaftliche Notwendigkeit zu sehen. Wäre kein genügendes Netz von brauchbaren Landstraßen vorhanden gewesen, so würden auch die Eisenbahnen nicht in der Lage gewesen sein, ihre volle Bedeutung zu erlangen. Die Eisenbahnen können nur da ihren ganzen Nutzen entfalten, wo ein wohlausgebautes Netz von Landstraßen zu ihrer Ergänzung existiert, die den Bahnen als Güterzubringer und Güterverteiler dienen. Die Landstraßen sind, wie man treffend bemerkt hat, die kleinen Adern, welche das Blut in die Eisenbahnen als die Hauptadern hinleiten und es von da wieder ableiten und weiter verteilen.

In dem Maße, in dem die einzelnen Staaten ihr Landstrassennetz gleichmäßig in allen Landesteilen ausbauten, konnten sie auch an die Abschaffung der Gebühren denken, die anfänglich überall für die Benutzung der Chausseen erhoben worden waren, und mit einem gewissen Recht, solange nur einzelne Gegenden sich auf Kosten des Staats des Vorzugs guter Kunststraßen erfreuten. In den süddeutschen Staaten erfolgte die Abschaffung der Chausseegelder, für deren Höhe übrigens in den Zollvereinsverträgen ein Maximaltarif festgesetzt worden war, schon zwischen 1820 und 1840. Preußen folgte erst 1875. Von diesem Jahre an gab es auch in Preußen überhaupt keine Staatsstraßen mehr. Die vom Staate gebauten Straßen wurden den Provinzen überwiesen, und der Staat wandte dafür seine Aufmerksamkeit dem neuen Verkehrsmittel der Eisenbahnen zu, deren Verstaatlichung bald nachher beginnt.

Neben dem Ausbau des Landstraßennetzes betreffen die Fortschritte, die in der ersten Hälfte des Jahrhunderts im Verkehrswesen erzielt wurden, vor allem die Postorganisation und zwar speziell das Landpostwesen. Bis in die 30er Jahre bestanden für den Postverkehr der Landbevölkerung keine besonderen staatlichen Einrichtungen. Die Landbewohner waren für die Auflieferung und den Empfang ihrer Postsendungen auf die ihnen zunächst gelegenen Postorte angewiesen. Dort hatten sie ihre Briefe und Pakete entweder selbst an Gerichts- oder Markttagen zu bringen oder durch Boten und Botenfrauen bringen zu lassen. Mit der staatlichen Landbriefbestellung ist in Preußen erst 1824 begonnen worden. Das Landpostwesen entwickelte sich aber zunächst nur sehr langsam. Erst Ende der 50er Jahre konnte in Preußen die Einführung eines regelmäßigen Landbestelldienstes an allen Wochentagen für den gesamten Umfang der Monarchie als Ziel aufgestellt werden. Durch das Posttaxgesetz von 1871 wurde endlich auch die gänzliche Aufhebung des Landbestellgeldes für Briefe erreicht. Damit war ein wichtiger Unterschied in den Postverhältnissen zwischen Stadt und Land weggefallen. Die Gefahr war nun beseitigt, daß die ohnehin in unserer ganzen modernen Entwicklung liegende Tendenz, die Bildungs- und Kulturunterschiede zwischen Stadt- und Landbevölkerung immer mehr zu vergrößern, durch die Posteinrichtungen noch verschärft werde. Am Ende des Jahrhunderts hat auch die gesamte Landbevölkerung Deutschlands die Möglichkeit erlangt, in regelmäßigem täglichen Nachrichtenverkehr mit der übrigen Welt zu treten. Und Sombart hat nicht unrecht, wenn er im Hinblick hierauf den Refrain des bekannten Hammerschmieds-Lieds dahin variiert: "Kein Dörfchen so klein, Kehrt täglich doch der Postbote ein."

Von der Post, die ja im Grunde gar kein selbständiges Verkehrsmittel ist, sondern nur eine Organisation zur Ausnützung schon vorhandener Verkehrsmittel, wenden wir uns nun zur Eisenbahn:

Die ersten Eisenbahnen, die bis 1840 in Deutschland gebaut wurden, wie die Nürnberg-Fürther Ludwigsbahn, die Berlin-Potsdamer und die Leipzig-Dresdner Bahn, waren fast sämtlich Privatunternehmungen. Nur in Braunschweig entstand schon 1838 eine kleine Staatsbahn. Sie blieb aber lange vereinzelt. Insbesondere die hohe preußische Bureaukratie wollte von den Bahnen zunächst nichts wissen, weil sie sich keinen finanziellen Erfolg von ihnen versprach. Als man die Linie Berlin-Potsdam plante, soll der preußische Generalpostmeister v. Nagler gesagt haben: "Dummes Zeug! Ich lasse täglich diverse sechssitzige Posten nach Potsdam gehen, und es sitzt niemand drinnen. Nun wollen die Leute gar eine Eisenbahn dahin bauen. Ja, wenn Potsdam Paris wäre." Am Ende des 19. Jahrhunderts verkehrten über 300 Eisenbahnzüge täglich zwischen Potsdam und Berlin, die etwa 20000 Naglerschen Postkutschen in der Zahl der Plätze gleichkamen. So überließ man denn lange Zeit den Bau der Bahnen hauptsächlich dem Privatkapital und dem privaten Unternehmungsgeist, wenn daneben auch einzelne Staatsbahnen gebaut wurden, besonders in Süddeutschland. In Preußen entfiel noch 1879 mehr als die Hälfte des gesamten Bahnnetzes auf die Privatbahnen. Unmittelbar darauf begann man aber, nachdem das Bismarcksche Reichseisenbahnprojekt leider gescheitert war, mit der Verstaatlichung der Eisenbahnen in Preußen. Noch vor der Mitte der 80er Jahre hatte sich der preußische Staat die Herrschaft über die Eisenbahnen seines Landes endgültig gesichert. Und auch die anderen Bundesstaaten brachten immer mehr Linien in ihren Besitz, so daß am Schluß des Jahrhunderts in Deutschland der Staatsbetrieb durchaus vorherrschte und es nur noch wenig Privatbahnen gab, die zum Teil sogar vom Staate verwaltet wurden.

Auf die allmähliche Steigerung der Leistungen der deutschen Eisenbahnen näher einzugehen, muß ich mir leider versagen, da sich dieser Gegenstand nicht ohne Verwendung eines größeren Zahlenapparates behandeln läßt. Nur kurz erwähnt sei, daß von Jahrzehnt zu Jahrzehnt die Leistungen der Bahnen nicht nur absolut, sondern auch relativ gewachsen sind. Auf ein Kilometer Bahnlänge wurden am Schluß des Jahrhunderts etwa anderthalbmal so viel Personen und doppelt so viel Güter befördert wie in den Jahren vor der Gründung des Reichs. Das gab die wirtschaftliche Möglichkeit, die Beförderungspreise der Bahnen immer mehr herabzusetzen. Diese Verbilligung ist indessen dem Güterverkehr viel mehr zugute gekommen als dem Personenverkehr. Im Güterverkehr waren die Frachten am Schluß des Jahrhunderts durchschnittlich fast um die Hälfte niedriger als in den 60er Jahren. Dabei trägt jetzt der Gütertransport trotz der stärkeren Ermäßigung der Frachtsätze den Löwenanteil zu den Einnahmen der Bahnen bei, während anfänglich die Einnahmen aus dem Personenverkehr das Übergewicht besaßen.

Ludwig Pohle: Die Umgestaltung des Verkehrswesens
In "Reiseleben" Heft 10, S. 27-31.
(Holzminden: Ursula Hinrichsen; 1985)
ISBN 3-922293-08-5


1. Deutsches Tourismusmuseum geplantTable of contentsVorwort des Herausgebers

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