Reiseleben, Heft 13 / 1986

Baldo Podic:

T.C.I. - der italienische Baedeker

Milano 1914. BAEDEKER ist beinahe 80 Jahre alt und gilt als Inbegriff des Reiseführers, nicht nur in Deutschland, England oder Frankreich, wo das einheimische Reisepublikum gewonnen wird, trotz der starken Konkurrenz von Murray bzw. Joanne. Der Italiener bereist sein eigenes Land, falls ihm das möglich ist, mit einem der genannten Reiseführer, lernt es kennen und entdeckt, daß das Kennenlernen nicht zu einer Liebe reicht. Der Italiener braucht ein Buch, das in ihm diese Liebe für das eigene Land erweckt; die Liebe, die ein Deutscher in den 'Regional'-Bänden oder ein Franzose in einem 'Guide regional' findet. Und leicht entdeckt der Italiener, daß die 'Baedeker'-Italien-Bände - am meisten in Italien verbreitet - für die ausländischen Touristen gemacht sind, daß z. B. in dem Band 'L'Italie des Alpes a Naples' das ganze südliche Italien fehlt; sein Nationalstolz sucht nach einer nationalen Lösung. Und findet sie.

In Milano erscheint im Jahre 1914 der erste Band einer Reihe, die ursprünglich in 7 Bänden das ganze Land beschreiben - besingen sollte, möchte ich sagen; die übrigen folgen rasch und bis 1928 ist das Werk in seiner ersten Reihe vollendet. Während aber der letzte Band – ‚Campania, Basilicata, Calabria’ - unter Druck ist, erlebten die Bände über die Nordprovinzen schon mehrere Auflagen. Italien hatte im Kriege seine Grenzen nach Osten erweitert; den zwei Bänden 'Le tre Venezie' folgt ein dritter, 'Libien' wird in zwei Bänden beschrieben, usw. Der Italiener hat also seinen eigenen 'Baedeker' bekommen; in der Person von Luigi Vittorio Bertarelli seinen eigenen 'Karl Baedeker', der sich als Lebensziel die Aufgabe setzt, sein eigenes Land meist mit Fahrrad oder zu Fuß zu bereisen und aus einer Fülle von Tatsachen das Wesentliche zu bringen. Und er tut es in einem Stil, mit einer Poesie, die für einen Reiseführer zweifelsohne ohne Vergleich sind. Jede Stadt wird sofort, bevor die Fakten über die Lage, Einwohnerzahl, Geschichte genannt werden, in knappen Sätzen poetisch dargestellt; die historischen Gestalten so nahe dem Leser gebracht, wie es nun möglich ist. Dem heutigen Leser wird das Lesen dieser Bände, die dem Baedeker äußerlich so sehr ähneln, ein für alle Zeiten entschwundenes Italien vor die Augen bringen; ein Italien der kleinen Eisenbahnlinien, die heute von monströsen Autobahnen ersetzt werden; der kilometerweiten nackten Küsten und Wälder, die heute dem "Exklusivtourismus" geopfert werden; der kleinen, verschlafenen und romantischen Städtchen, die heute Teile der "urbanen Agglomerationen" sind.

Schon 1930 beginnt man mit einer neuen Reihe; die Bände werden nicht mehr etwa 'Italia centrale' oder 'Italia meridionale' genannt. Die Namen dieser neuen Bände sind Namen der Provinzen, das Material wird gewaltig erweitert. Dazu kommen der Band 'Possidimenti e Colonie' oder das kapitale Unternehmen 'Africa Orientale Italiana', bis heute zweifelsohne die beste Beschreibung des östlichen Afrikas. Es werden "Auszüge" aus den grösseren Bänden gedruckt, etwa 'Milano' 1913, 'Rodi e le isole italiane del Egeo' 1930, 'Corsica' (!) 1929 - alle freilich für den Sammler von extremer Seltenheit. Man verbindet sich mit den ausländischen Verlegern, die für die ausländischen Touristen die Bände übersetzen und ergänzen (Grieben, Guides Bleus, Murray, etc.) Zwei Ereignisse sind, denke ich von historischer Bedeutung: Das Erscheinen des kapitalen Bandes 'Argentina, Uruguay, Paraguay' 1932 (in italienischer und spanischer Sprache) als Beginn einer Serie über Südamerika, der Kontinent der italienischen Auswanderer (eine Serie, die leider wegen des Krieges nie ihre Fortsetzung fand); und weiter der Band 'Dalmatien' aus dem Jahre 1934, der alle übrigen Reisebücher über Dalmatien weitaus übertrifft. Dieses 'Dalmatien' ist der Ausdruck der politischen Gedanken über ein italienisches 'mare nostrum' und betrachtet die ostadriatische Küste als Teil Italiens. Abgesehen von diesen politischen Hintergedanken beschreibt es die dalmatinische Küste mit einer Fülle von Tatsachen, Beschreibungen, ja Liebe, die ihresgleichen sucht. Gleichzeitig merkt man eine neue, langsam schleichende Tendenz: "Konsumismus" setzt sich an die Stelle des Romantischen, Ideologie - wie in allen totalitären Regimen - bedrängt Objektivität; die 'Guida d'Italia' erlebt das Schicksal der eigenen Heimat in allen seinen Aspekten. Ein kurzes Aufblühen vor und während des Krieges mit der 'Guida breve d'Italia', mit dem Erscheinen der Bände 'Tunisia', 'Libia' (II.ed.), 'Grecia', 'Albania' und 'Croazia' als Ausdruck einer utopischen Politik, die leider das ganze Land in Schutt und Asche führt. Wie auch beim 'Baedeker' sind die Bibliothek, Unterlagen und Archiv vernichtet; heute versucht man in dem mühsamen Puzzlespiel das Verlorene wieder zu entdecken und zu vervollständigen. Eine Übersicht über viele 'Ristampe' existiert noch nicht; über das berühmte, oben genannte 'Dalmatia' von 1934 weiß man noch nicht, ob es schon 1934 separat gedruckt wurde (getrennt von 'Venezia Guilia') oder erst 1942 "con note di aggiornamento di 1942" (:). Und so weiter.

Nach dem Kriege findet der T(ouring) Club) I(taliano) die Kraft, die eigene Krise zu überwinden und zu einer neuen Blüte zu kommen; etliche neue Auflagen werden gedruckt, über Italien und über die ganze Welt; für einen Liebhaber alter Reiseführer endet die Geschichte mit dem Zusammenbruch Europas im zweiten Weltkrieg. Das Sammeln und die Liebe für die heutige Generation der Reiseführer überlassen wir gerne den kommenden Reisegenerationen. Für uns bereitet das Blättern in dem alten roten T.C.I. 'Guida d'Italia' ein unvergleichliches Vergnügen unserer Italien-Liebe; eine klare Differenzierung zeigt uns deutlich, daß man jedes Land in d e n Büchern kennenlernt, die aus dem betreffenden Lande stammen; daher glaube ich an die enorme Wichtigkeit des "italienischen Baedekers" für alle Italiener und Nicht-Italiener. Als Beispiel folgt ein Auszug über Florenz:

"FIRENZE m. 49, ab. 247791, nella Parte media dell'Arno, che la divide in due parti disiguali, e una citta nobilissima, che fu il maggiore centro dopo Roma per importanza e copia di tesori artistici, e tipica nell'austerita mediovale e nella grazia elegante del Rinascimento dei suoi monumenti, in perfetta armonia di forme coi colli sereni, che cingono con la loro primavera fiorita la culla della bellezza. Focolare primo anche del pensiero italiano, per cui fu detta a ragione l'"Atene d'Italia", essa diffuse per la penisola, con le opere dei suoi scrittori, massimo Dante, la sua parlata gentile, viva, dolce come un canto, che divenne la lingua della nazione."

Die Romantik dieser Beschreibung aus diesen alten Büchern! Wie könnte wohl ein passionierter Sammler oder Liebhaber ohne sie leben?

Baldo Podic: T.C.I. - der italienische Baedeker
In "Reiseleben" Heft 13, S. 6-8.
(Holzminden: Ursula Hinrichsen; 1986)
ISBN 3-922293-11-5


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