Reiseleben, Heft 14 / 1987

Verkehrskultur der Kutschenzeit

Fortsetzung aus Heft 13

Solch ungehemmte Euphorie verbreitete sich nicht zufällig besonders in Preußen, das auf dem Sektor seines Verkehrswesens bis dato wenig Ruhm geerntet hatte. Noch an der Wende zum 19. Jahrhundert ist in den Reiseberichten aus dem Nordosten des Reiches meist nur von verdrießlichen Schlammschlachten die Rede. Der Postwagen versinkt in Morast und Kot. Er wird als eiserner "Altar" karikiert, auf dem der Passagier "seine weichen Teile zum Opfer bringt", um die Gerätschaft nach durchstandener Fahrt - wie man heute sagen würde - 'krankenhausreif' zu verlassen. "Die Herren, die dieses wol abändern können", empört sich einer, "die fahren mit eigenen Equipagen, und wissen also nicht, was es heißt, 3, 4 Nächte hinter einander, auf einem elenden Wagen zu sitzen, wo die Sitzbänke nicht einmal eine Seitenlehne haben." Deutlicher konnte man es wohl kaum formulieren. Mass man die öffentliche Fahrpost am vorhandenen Maßstab verfügbarer Technik und Ausstattung, verschaffte man sich an den Poststationen, wenn auch nur aus der Ferne, ein Bild von den Fortschritten im Kutschenbau, drängte sich die Empörung förmlich auf. Die hier zitierte Kritik wurde übrigens von August Ludwig Schlözer, dem Göttinger Geschichtsprofessor, im Jahre 1788 in seinen StatsAnzeigen abgedruckt - eine für den Herausgeber keineswegs ungefährliche Entscheidung. Denn eine Kritik an den 'Klassen'-Unterschieden des Reiseverkehrs war im Deutschland des aufgeklärten Absolutismus insofern stets auch Gesellschaftskritik, als sie die sozialen Differenzen feudalabsolutistischer Prägung aufdeckte. Wer heute meint, er müsse in Äußerungen von der Art dieses Artikels unterhaltsame Anekdoten zum "Reisen anno dazumal" sehen, sollte beachten, daß Verfassern solcher publizistischer Angriffe - wurde man ihrer Namen habhaft - lange Gefängnisstrafen drohten. Sogar die Stats-Anzeigen August Ludwig Schlözers wurden wegen "Mißbrauchs der Censurfreiheit" von höherer Stelle "suspendiert". Schlözer hatte den Nordheimer Postmeister Dietzel öffentlich angeprangert, weil dieser Durchreisenden ein gesondertes "Stationsgeld" abforderte.

Reisten im Norden die kritischen Köpfe auf freilich plumpen Bauernwagen, so befanden sich im Süden des Reiches dagegen all jene "Dinge in dem beßten Zustand, die auf den Thiermenschen wirken". Zu diesem bündigen Vergleich gelangt im Jahre 1783 der Reiseschriftsteller Johann Kaspar Riesbeck. In der Tat trugen sich die schwäbischen Monarchen mit einer, fast will man sagen, "verschwenderischen" Verkehrspolitik in das Buch der Geschichte ein. Während beispielsweise mit dem Bau von Kunststraßen in Preußen erst im Jahre 1793 begonnen wurde, unterhielt Baden Chausseen bereits seit 1733 und Württemberg seit 1739. Immerhin: Pro Meile kostete die mit Steinpflaster trassierte Kunststraße bis zu 30.000 Reichstaler, was ungefähr dem 15fachen der jährlichen Bezüge eines General-Postmeisters entsprach. Der finanzielle Aufwand erklärt das auffallende 'Süd-Nord-Gefälle'. Länder, die sich wie Preußen im Kriegsdauerzustand befanden, konnten die notwendigen Gelder kaum aufbringen. Das galt ebenso für den Straßenbau wie für den Postverkehr. Wie kaum ein anderes Land räumte Preußen ohnehin seinen Staatsinteressen unbedingte Priorität ein. Der Staat Friedrichs des Großen zog aus dem Postverkehr zwar die Hälfte seiner gesamten Roheinnahmen, ließ aber zwei Drittel der gesamten Staatseinnahmen zum Unterhalt der Armee in die Militärkasse fließen. Das Problem war nur: Die einseitig gelenkten Interessen waren mit dem Selbstverständnis des absolutistischen Staates, der nach außen hin als Wohlfahrtsstaat auftrat, kaum zu vereinbaren. Entsprechend derb fiel angesichts der verwahrlosten Straßen das Lamento der Untertanen aus, die dem absolutistischen Herrscher einen Spiegel seiner Regierungspraxis vorhielten: "Diesem Zweig der Landesverbesserung scheint der König gar keine Aufmerksamkeit zu würdigen, denn selbst der Weg von Potsdam nach Berlin, welchen er selbst so häufig paßirt, ist unbeschreiblich schlecht."

Um so mehr erstaunt der zügig vorangetriebene, kursmäßige Ausbau der Schnellposten, womit der Staat im frühen 19. Jahrhundert unter Beweis stellte, was zu leisten er imstande ist, hat er sich einer Sache einmal angenommen. Binnen kürzester Zeit machte Preußen im Straßenbau seine Defizite gegenüber dem Süden wett. Bis zum Jahre 1835 war der Bestand an Chausseen in Preußen bereits auf 12.000 km angewachsen. Erstaunlich sind auch die technischen Verbesserungen im Wagenbau. Die Postkutschenmodelle der Eilwagenzeit standen den bürgerlichen Reiseequipagen in nichts mehr nach. Ein völlig neues Konstruktionsprinzip setzte sich durch. An die Stelle der bislang gebräuchlichen Riemenaufhängung trat eine selbsttragende Konstruktion: Das Prinzip einer vertikalen Federung des Wagenaufbaus. Der Wagenkasten saß damit direkt auf den insgesamt acht Stahldruckfedern des Fahrzeuggestells auf. Zu den Vorgängermodellen verhält sich dieses Prinzip wie ein Federbett zu einer Hängematte. Ausstattung und Komfort der Eilwagen vermittelten daher ein völlig neues Reisegefühl. Der Reisende, schwärmten die Zeitgenossen, "schwebt auf den (...) starken, elastischen Federn sanft dahin".

Ungeteilten Beifall fanden neben der modernen Ausführung der Eilwagenmodelle die von Seiten der Postbehörden angestrengten Maßnahmen zur organisatorischen Straffung des Reiseverkehrs. Das Handgepäck wurde - Sie erinnern sich an die eingangs erzählte Geschichte - auf 10 Pfund limitiert. Dadurch entfiel das zeitraubende Ein- und Ausladen der Gepäckstücke auf den Stationen. Charakteristisch für die neue Verkehrsführung ist der Beiwagen (Beichaise), der das schwere Gepäck aufnimmt und "dem Eilwagen vorausgeht, oder nachfolgt". Das Interesse der Anstalten ging ferner dahin, die Fahrpreise zu vereinheitlichen. Das Fahrgeld wurde jetzt vor Antritt der Reise in Form einer einmaligen Aufwendung beglichen. Die Postregie knüpfte an diese neue Bestimmung die Hoffnung, daß "die Plackereien (...) um Gebühren, Trinkgelder usw. - sowohl unterwegs als auch bei der Abfahrt und Ankunft gänzlich aufhören". Derartige Reiseerleichterungen trugen ohne Zweifel den Stempel einer demonstrativen Aufwertung des Fahrpostverkehrs. Zu seinem Durchbruch und Erfolg verhalf dem Eilwagen dann jedoch etwas ganz anderes, nämlich die unerhörte, neue Geschwindigkeit.

"Im Jahre 1827", erinnert sich Otto Bähr, "führte einst bei einem Spaziergange mein Vater mich auf den Posthof (von Kassel) und zeigte mir dort einen großen zwölfsitzigen Wagen. 'Sieh, das ist der neue Eilwagen', sagte er; 'der fährt in vierundzwanzig Stunden nach Frankfurt.' Ein Wunder!"

Doch nicht nur zwischen Frankfurt und Kassel waren die Vorstellungen von den räumlichen Entfernungen brüchig geworden. Den preußischen Ost-West-Kurs zwischen Tilsit und Aachen, für den mit der Ordinari-Post des 18. Jahrhunderts 14 Tage zu veranschlagen waren, bewältigte die Schnellpost jetzt in 7 Tagen. Auf der Strecke Berlin-Hamburg reduzierte sie die alte Fahrzeit von 85-91 Stunden auf nicht mehr als 31 1/2 Stunden und zwischen Berlin und Breslau von vormals 94-96 auf 32 Stunden. Wir mögen dieses "Wunder" angesichts seiner Höchstgeschwindigkeit von ca. 14 km/h belächeln, das frühe 19. Jahrhundert war fassungslos.

Wie ein Blitz aus heiterem Himmel überraschte das Kursprogramm der Eilwagen und Schnellposten mit seiner straffen Linienführung das biedermeierliche Deutschland, das sich längst hilflos damit abgefunden hatte, die Trinkfestigkeit der Postillione zum Maß des Reisetempos zu nehmen. "Ist der Passagier", klagt bezeichnenderweise noch im Jahre 1820 Ludwig Börne, "ein Narr jedes Postmeisters, Conducteurs und Postillions, und muß er liegen bleiben, so oft es diesen Herren gefällt, Wein zu trinken,...?" Damit machte der Eilwagen Schluß. Die Uhr, die immer nachhaltiger in das Bewußtsein der Menschen eindrang und unter deren Einfluß sich ein tiefgreifender Wandel der Lebensverhältnisse abzuzeichnen begann, die Uhr, um es überdeutlich zu sagen: Die Uhrenmechanik regierte jetzt über das Verkehrsgeschehen. Die Aufenthaltszeiten an den Stationen wurden aufs äußerste beschränkt: 5 Minuten für Pferdewechsel, 10 bis 15 Minuten für die Expedition an den Knotenpunkten. Selbst die Mahlzeiten waren fest in den Zeitplan einbezogen. In vorausbestimmten Lokalen zu vorher abgesprochenen Preisen mußten sie bei Ankunft der Passagiere "bereit gehalten" werden. "So wie man aus dem Wagen steigt," registrierten die Reisenden, "bringt man schon die Suppe auf den Tisch." Kondukteure, mit Kursuhr und Stundenbuch ausgerüstet, hatten über eine strenge Einhaltung der festgesetzten Zeiten zu wachen. Die Uhr war zum ordnungsschaffenden Prinzip geworden, einem jeder Manipulation enthobenen Garanten, an dem sich die Effektivität des Eilwagens bemaß.

Kehren wir nun zum Schluß zurück zu der Geschichte, die ich Ihnen eingangs erzählt habe. Sie ist aus einem noch ganz anderen Grunde erfunden, weil nämlich Ludwig Rellstab, als er im März des Jahres 1843 von Berlin nach Prag aufbrach, ein kleines Stück seiner Reise, und zwar bis Leipzig, in Wirklichkeit bereits mit der Eisenbahn zurücklegen kann. Allerdings macht Rellstab zwischen den beiden Verkehrsmitteln Eisenbahn und Schnellpostkutsche keinen großen Unterschied. Beide ergänzen sich in seinen Augen vielmehr zu einem harmonisierenden Verkehrsensemble mit trefflich aufeinander abgestimmten Kursen und genauestens eingehaltenen Fahrplänen. Ob das Reisen auf den solchermaßen "durchflogenen Strecken" allerdings ein Gewinn sei, gibt Rellstab zu bedenken, wolle er bezweifeln.

Rellstab sieht sich um die Erlebniswelt des Reisens betrogen. In der Erinnerung bleibt ihm nämlich kaum mehr als das unbestimmte Gefühl einer "Flüchtigkeit der Bilder". Die Eindrücke wechseln derart rasch, daß dem Reisenden die gewohnte Orientierung abhanden kommt. Sein Wahrnehmungsbewußtsein wird überfordert. Auf das Sinnenchaos reagiert er, indem er sich in eine Art Geschwindigkeitsrausch versetzt fühlt. "Die Reise von Berlin hierher," notiert Rellstab während eines Zwischenaufenthaltes in Frankfurt, "ist jetzt mit einer Schnelligkeit möglich, welche die Eindrücke derselben fast der unbestimmten Verworrenheit eines Traumes gleich macht."

Wen wundert es, daß mancher da die Flucht in die Rückbesinnung antrat. Nostalgie kam auf. 1833 erschien im Stuttgarter Morgenblatt Nikolaus Lenaus Gedicht "Der Postillion": "Lieblich war die Maiennacht...". Und mit der "lieblichen Maiennacht" war der Mythos von den Kutschenfahrten "Hoch auf dem gelben Wagen" geboren.

In Berlin wurde 1981 neben der großen Preußen-Ausstellung auch eine postgeschichtliche Ausstellung in der Urania gezeigt. Das Motto eines Raumes, der in die Eisenbahnzeit führte, lautete: "Mit der Eisenbahn endet die Postkutschenromantik." Bezeichnend für eine weitverbreitete Vorstellung von der Postkutschenreise, unterlief den Ausstellungsmachern bei diesem Satz ein grober Irrtum. Denn allenfalls beginnt die Postkutschenromantik mit dem Dampfzeitalter. Doch auch hinsichtlich dieser Vermutung belehren uns die Zeitgenossen eines Besseren. Der 'Poesie'-Verlust des Reisens, den die 'Postkutschenromantiker' der Fortschrittseuphorie ihrer Zeit entgegenhalten, reicht bis zu den Anfängen des Eilwagenverkehrs zurück: "Wer erinnert sich nicht aus seiner Kindheit oder Jugend noch einer gemüthlichen, romantischen Fahrt im Postwagen? - Der spätere Eilwagen hatte schon viel an Gemüthlichkeit und Poesie verloren (...)."

Eilwagen und Schnellpost stehen im eigentlichen Sinne am Beginn der Verkehrsmoderne. Und sie stehen am Beginn einer Verkehrskultur, die geprägt ist von dem unruhigen, nervösen Menschen. Angesichts des Eilwagens fühlen sich die Kritiker unter den Reisenden plötzlich um die Gemächlichkeit betrogen, die die alten Postwagenfahrten in der Rückschau ausmachten. Die neue Art zu reisen empfinden sie dagegen als "wahres Horreur": "Diese tyrannische Pünktlichkeit, die für das Ganze von großem Vortheile seyn mag, wird für den Einzelnen zur Qual."

Klaus Beyrer: Verkehrskultur der Kutschenzeit
In "Reiseleben" Heft 14, S. 2-6.
(Holzminden: Ursula Hinrichsen; 1987)
ISBN 3-922293-12-3


Zu diesem HeftTable of contentsReiseliteratur im Zeitalter mechanischer Transportmittel

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