Reiseleben, Heft 14 / 1987

Stephan Kohl:

Reiseliteratur im Zeitalter mechanischer Transportmittel

PAUL THEROUX, ABENTEUER EISENBAHN UND DER ALTE PATAGONIEN-EXPRESS

1. Das schwierige Thema: Bericht über eine Eisenbahnfahrt

1845 hatte Thomas Cook damit begonnen, Bahnreisen für ein breites Publikum zu organisieren; spätestens auf dieses Jahr ist der Anfang einer Entwicklung zu datieren, in deren Verlauf die Öffentlichkeit mit der Benutzung mechanischer Verkehrsmittel vertraut wurde.

Erwartungsgemäß versuchten nun damals zeitgenössische Reiseschriftsteller, die psychologischen Umstände des Fahrens mit der Bahn zu beschreiben, und in der Regel kamen sie dabei zu dem Schluß, daß sich über eine Zugfahrt nichts Bemerkenswertes mitteilen ließe. So meinte beispielsweise der bekannte Orient-Reisende Kinglake 1844:

„In den europäisierten Ländern ist heutzutage die Fahrt von einem Ort zum andern ein so kurzfristiger Vorgang, beansprucht nur einen so geringen Teil der Zeit, die dem Reisenden zur Verfügung steht, daß sich dieser auf die Fahrt gar nicht einstellen kann, solange die Räder sich drehen. Er ist sich bloß eines vorübergehenden Zustands bewußt; seine Gedanken sind noch mit dem Fahrtziel beschäftigt, und ehe er eine der Fahrt entsprechende Einstellung entwickeln könnte, ist er schon behaglich in seinem Hotel untergekommen.“

Die Vorzüge der neuen Reiseform - unmittelbare Zielgerichtetheit, begrenzte Dauer und planmäßige Ankunft - stellen also nach Meinung Kinglakes zugleich die Faktoren dar, die die Herausbildung einer Einstellung verhindern, die der Bahnfahrt gerecht werden könnte. Daher scheint es auch unmöglich, daß die Eisenbahnreise Stoff für einen Reisebericht abgeben könne. Tatsächlich liegen auch erst seit jüngster Vergangenheit zwei Reiseberichte vor, die das Erlebnis einer Bahnfahrt zum Thema erhoben, die also vom Fahren in jenem Reisemittel handeln, das einst doch das Erlebnis der Ortsveränderung zerstört zu haben schien. Paul Theroux glückte mit „Abenteuer Eisenbahn“ (Originaltitel: „The Great Railway Bazaar“) 1975 und mit „Der alte Patagonienexpreß“ 1979 das nach Ansicht Kinglakes Unmögliche: Die Tradition des Reiseberichts ins Zeitalter des mechanischen Transportmittels Eisenbahn zu übertragen.

(Angesichts des vielleicht abgelegen anmutenden Gegenstandes sei daran erinnert, daß es sich bei Paul Theroux nicht um einen obskuren Journalisten oder einen schriftstellerisch dilettierenden Eisenbahn-Enthusiasten handelt, sondern um den Verfasser zahlreicher Romane und Kurzgeschichten, die von der Kritik ernst genommen und oft auch gelobt werden. Auch ins Deutsche wurden einige seiner Titel übertragen.)

Theroux' erster Reisebericht, „Abenteuer Eisenbahn“, soll nun daraufhin geprüft werden, ob und wie es dem Autor hier gelang, die referierte These zu widerlegen, nach der eine der Eisenbahnfahrt angemessene Einstellung schwerlich zu erwerben sei. Es wird also zu fragen sein:

- Auf welche Weise prägt das Verkehrsmittel Bahn die Erfahrungen des Reisenden?
- Wie gestaltet sich das Verhältnis von durchmessener Landschaft und stimmungsmäßiger Befindlichkeit des Fahrenden?

Als Ergebnis wird sich abzeichnen, daß Kinglakes skeptische Ansichten nur zum Teil revidiert werden müssen. „Der Alte Patagonien-Express“ wurde - wohl wegen der Unvollkommenheiten des ersten Werkes - auch als Mitglied einer literarischen Traditionskette, der der 'Patagonienreise', angelegt und soll daher vor dem Hintergrund dieser Reiseberichte diskutiert werden. Dabei wird sich zeigen, daß mit der Eisenbahnreise durch die amerikanischen Kontinente eine innere Entwicklung des Berichtenden einhergeht, eine Entwicklung solcher Art dazu, wie sie gerade langdauerndes Reisen mit einem mechanischen Verkehrsmittel bewirken kann. Zunächst indes einige Bemerkungen zu den Reisen selbst und zu Theroux' literarischen Absichten. Als ob er auf jeden Fall die Gefahr ausschließen wollte, zu wenig Zeit für die Entwicklung einer für Eisenbahnreisen spezifischen Einstellung zu haben, unternahm Theroux äußerst lange Fahrten. Die erste führte in denkbar weitem Kreis von London über Ankara, Teheran, Kalkutta, Singapur, Tokio und Moskau wieder zurück an den Ausgangspunkt; auf der zweiten durchquerte er den amerikanischen Kontinent von Boston im Norden bis in den Südwesten Argentiniens, bis nach Esquel in Patagonien. Beide Reisen sind mit Bedacht so komponiert, daß sie ihren Abschluß und Höhepunkt in öden und wüstenhaften Regionen finden: in den winterlichen Weiten Sibiriens und in Patagonien.

Mit seinen Berichten über diese Unternehmungen stellte sich Theroux bewußt gegen die Praxis des Reiseberichts im Zeitalter mechanischer Transportmittel, die Fahrt-Komponente einer Reise unberücksichtigt zu lassen:

„Ich aber war von vornherein entschlossen gewesen, keinesfalls über den Aufenthalt an einem Ort zu schreiben. Mir ging es eher um die Fahrt dorthin.“

Damit schreibt Theroux in Opposition zu den Konventionen des neuzeitlichen Reiseberichts, der getreu die Verlagerung des Interesses vom Gesamterlebnis 'Reise' auf Zielort oder Zielgebiet allein nachvollzieht, wie sie sich bei einem reisenden Publikum eingestellt hatte, das sich an die tendenziell ereignislose Fortbewegung mit mechanischen Verkehrsmitteln gewöhnt hatte. Während die Reiseliteratur des 17. und 18. Jahrhunderts neben den Einlassungen zur besuchten Gegend noch mit einer Fülle von Erlebnissen und Eindrücken aufwartet, die den Erzählern unterwegs zuteil wurden, beginnen Reisebücher aus späterer Zeit meist erst mit einer Szene, die am Zielort spielt. Theroux klagt denn auch:

„In diesen - und überhaupt in den meisten - Reiseberichten bleibt die von mir stets gestellte Frage unbeantwortet: Wie ist der Berichterstatter dort hingekommen?“

Zusammenfassend läßt sich also feststellen: Das Besondere der Reiseberichte Theroux' besteht darin, daß sie die Fahrt in der Eisenbahn zum Thema haben. Diese Art von Literatur hat es vor Theroux nicht gegeben. Wohl ist an kurzen Berichten oder knappen fiktionalen Darstellungen des Erlebnisses 'Eisenbahnreise' kein Mangel, entsprechende Reiseberichte in Buchlänge lagen aber nicht vor.

2. „Abenteuer Eisenbahn“: Eine neue Art des Reiseberichts

Die Reise, von der „Abenteuer Eisenbahn“ berichtet, dauerte vier Monate; einen Großteil dieser Zeit verbrachte der Reisende in fahrenden Zügen. Um ein solches Unternehmen zu einer Erfahrung werden zu lassen, die er zumindest bewältigen, vielleicht gar genießen kann, bedarf es einer Dosierung der zahllosen Eindrücke, die von außen auf ihn einstürmten. So kommt in Theroux' Reiseberichten die Einnahme des Fensterplatzes dem Versuchsaufbau in einem psychologischen Experiment gleich, dessen Ziel es ist, die Eindrucksmenge anthropologisch zu optimieren.

Zwei Faktoren vor allem tragen nun zur Steuerbarkeit der Reizmenge bei: Die Monotonie der Zugfahrt steigert - jedenfalls zunächst - das assoziative Denken des Reisenden, sie wirkt psycholytisch. Die häusliche Geborgenheit des Abteils dagegen mildert die Intensität jener Komponente des Erlebens, die von der Fremde ausgeht. Mit dem Zug steht also ein Verkehrsmittel zur Verfügung, das mehr als andere Geborgenheit bietet, wenn abweisende Landstriche zu durchqueren sind:

Im Zug kann man auch entsetzlichere Gegenden beruhigt durchfahren.

So erweist sich dieser Bahnfahrer als Nachfolger jener Touristen des ausgehenden 18. Jahrhunderts, die - am Beispiel William Gilpins orientiert - Pittoreskes und Naturschönes zwar sehen wollten, dabei aber die geländegesicherte Aussichtsterrasse oder die behagliche Kutsche zu verlassen nicht im Sinn hatten. Auch war Gilpin der erste, der die Konzeption Panoramatischen, oberflächlichen Reisens einführte, die später dann das Verkehrsmittel Eisenbahn seinen Benutzern vorschreiben wird:

Gerade in der schnellen Abfolge schöner Landschaftseindrücke liegt etwas Ergötzliches. Diese Art des Reisens versetzt die Vorstellungskraft in angenehme Erregung, und die unverbundenen Assoziationen verschmelzen zu einer Art Wachtraum, werden von der Phantasie in angenehmere Bilder verwandelt, als sie es in Wirklichkeit sind.

Auf lange Sicht gesehen geht das Arrangement des Reisenden bei Theroux freilich nicht auf, über ein Wechselspiel von Häuslichkeit und Landschaftsreiz den ideal dosierten Eindrucksfluß herzustellen. Immer wieder wird in „Abenteuer Eisenbahn“ gezeigt, wie eine falsch abgestimmte Reizmenge zu Niedergeschlagenheit oder Verwirrung führt. Von 'Wahnvorstellungen' ist dort beispielsweise bei der Fahrt auf der Transsibirischen Eisenbahn ebenso die Rede wie bei der Zugreise von Bangkok nach Butterworth. Trotz der heimeligen Bequemlichkeit, die ihm sein Single-Schlafabteil auf dieser Etappe bietet, erweist sich die öde, überschwemmte Landschaft in ihrer Eindrucksintensität als nicht regulierbar, und der Reisende ist vom Überdruß geplagt. Er resümiert:

„Ausgedehntes Reisen ruft eine Empfindung der Einschränkung hervor, und so kommt es, daß das Reisen den Geist verengt, auch wenn es ihn anfänglich erweitert haben mag.“

Anfängliche Erweiterung und anschließende Verengung des Bewußtseins: Dies ist die Wirkung der gesamten Fahrt um Asien. „Abenteuer Eisenbahn“ zeichnet also die Reduktion des Reisenden vom wahrnehmenden Subjekt auf einen apathischen 'Beförderungsfall' nach. Deutlich manifestiert sich solcher Abstieg auch in der Tendenz, die seine Landschaftswahrnehmung im Verlauf der Reise einschlägt. Der Beginn des Unternehmens, die nach den .Maßstäben eines Weltreisenden sicherlich nicht besonders bemerkenswerte 75-Minuten - Fahrt von London nach Folkestone, bringt noch Anregungen über Anregungen:

„Auf dem Bahnsteig von Tonbridge standen vergnügte Schuljungen in dunkelblauer Schultracht, Cricketschläger und Taschen in der Hand und mit rutschenden Socken. Wir fegten an ihnen vorbei, passierten einen Bauernhof und danach den Rand einer Siedlung, in der viele bemerkenswerte Wäschestücke zum Trocknen aufgehängt waren: Knickerbocker, lange Unterhosen, im Wind flattern schwarze Büstenhalter, Wimpel aus Mätzchen und Socken: Und sie alle übermittelten eine bedeutungsreiche Nachricht.“

Hier vergewissert sich der Reisende vor dem Aufbruch ins Unbekannte noch einmal der heimischen Trivialitäten. Typisch für seine Befindlichkeit ist dabei die im Sinne Gilpins gesteigerte Vorstellungskraft, die den wahrgenommenen Banalitäten 'Bedeutung' beimißt sowie Nicht-Wahrnehmbares bereitwillig imaginativ ergänzt. So gewinnen die auf der Leine trocknenden Wäschestücke die Zeichenqualität von Signalflaggen; und obwohl der Zug durch den Bahnhof fegt, will der Reisende herunterrutschende Socken entdeckt haben.

Nach dem Ermüden der Phantasie gewinnt die ästhetische Erinnerung an Macht, und der Reisende geht auf Motivsuche. Dies führt zu Kommentaren wie:

„Der Anblick, der sich mir bot, war arrangiert wie das Gemälde eines flämischen Meisters. Das Abteilfenster, das diesem Blick eine kurze Weile seinen Rahmen gab, ließ ihn zu einem Bild werden.“

Als auch das Warten auf die Deckungsgleichheit von Fensterszenen und vertraut scheinenden Bildmotiven seinen Reiz verloren hat, werden summarisch-sachliche Beschreibungen der durchfahrenden Landschaft die Regel, wie sie eben den Möglichkeiten eines maßvoll interessierten Zugreisenden entsprechen. Die zunehmende Abschließung dieses Reisenden von der Außenwelt, seine Trennung von der Befindlichkeit des Gilpinschen Reisenden, bahnt sich dann mit Gefühlen gleichgültiger Ergebenheit auch angesichts großartiger Szenerie an und hat bis zum Ende der Fahrt eine so radikale Ausformung gefunden, daß die Etappe von Moskau nach London -immerhin ein Unternehmen von 48 Stunden -nur noch eines einzigen Satzes gewürdigt wird:

„Den Halt in Warschau verschlief ich, auf Berlin glotzte ich nur, und bei der Einreise nach Holland hatte ich die Hoffnung aufgegeben, jemals das Ende dieser Fahrt zu erleben.“

Eine ähnliche Entwicklung durchläuft sein Verhältnis zu den Mitreisenden: Macht er sich zwischen London und Venedig noch die vergnügliche Mühe, plausible Biografien der anderen Passagiere zu erfinden, meint er zu den Insassen auf der Transsibirischen Strecke summarisch:

„Die anderen Erste-Klasse-Reisenden waren mir verdächtig oder betrunken oder einfach unangenehm.“

Vom lebendigen Spiel der Vorstellungskraft und vom ästhetisch bewußten Genuß der durcheilten Landstriche führt diese Reise also zur Abschließung von der Außenwelt. Hatte. der Reisende zu Beginn seines Unternehmens noch erwartungsvoll gemeint:

Im Zug kann man alles Mögliche erleben, so lautet am Ende sein Resümee:

Im Zug konnte man alles Mögliche erleben - sogar den Wunsch auszusteigen.

Nicht ohne Grund sind der erste und der letzte Satz dieses Reiseberichts identisch: Die Kreistour den Rändern Asiens entlang hat letztlich keinen Eindruck hinterlassen. Damit scheint sich in gewisser Weise die Vermutung Kinglakes doch zu bestätigen, daß über die tendenziell ereignislose Bahnreise nichts wirklich Mitteilenswertes zu berichten sei.

Indes bleibt es das Verdienst Theroux', mit seinem Buch „Abenteuer Eisenbahn“ den ersten Reisebericht über eine Bahnfahrt vorgelegt zu haben. Freilich ist anzumerken, daß dieser Reisebericht, der dem Zeitalter des Verkehrsmittels Eisenbahn gerecht zu werden sich vorgenommen hat, zu einer Zeit erscheint, in der eine Fernreise mit der Bahn zum verkehrstechnischen Anachronismus geworden ist und von rückwärts gewandter Wehmut umwoben zu werden beginnt.

In der Literatur des 19. Jahrhunderts geht nun die Behauptung, daß die Bahnreise weder ein Erlebnis eigener Art darstelle noch Eindrücke vermittle, die in Beziehung zur durchquerten Landschaft stünden, oft Hand in Hand mit einer Verklärung des Reisens in der Kutsche. Polemisch kontrastiert zum Beispiel William Morris derart die unterschiedlichen Verkehrsmittel, mit der Kutsche beginnend:

„O, diese Bäume! Alles war wie in einem Land, das uns ein liebliches Gedicht oder eine liebliche Romanze ausmalt. Wie schön ließen sich die Windungen des Tals ein weites Stück dem Ufer der Eure entlang nachziehen, von Bergen umkränzt - Aber wir mußten, um nach Rouen zu gelangen, das Tal verlassen und in einen häßlichen, teuflischen, lauten, kreischenden Eisenbahnzug steigen, der sich einen Dreck um Berg oder Tal, Pappel oder Linde, Klatschrose oder Kornblume, Distel oder Wicke schert.„

Den Gegensatz zwischen pastoraler Idealität und seelenloser moderner Fortbewegung arbeitet auch George Eliot heraus, um zu begründen, wieso die Eisenbahnreise dem an der Welt interessierten Autor oder Maler keinerlei mitteilenswerte Eindrücke vermitteln könne:

„Die Älteren unter uns haben Erinnerungen, um die wir sie beneiden, und zu diesen zählt unter allen Umständen die Rückschau auf eine lange Fahrt mit der Schnellpost durch den Frühling oder den Herbst, die sie einmal im Freien auf der Kutsche sitzend unternommen hatten. Mag sich die Nachwelt wie ein Projektil luftdruckgetrieben von Winchester nach Newcastle jagen lassen - eine solche Röhrenfahrt wird sich schwerlich als Vorwurf eines Bildes oder einer Erzählung eignen. Dagegen konnte der glückliche Kutschenreisende auf seinem Freiplatz vom frühen Morgen bis zur Abenddämmerung so viele Begebenheiten aus dem englischen Leben, so viele Erscheinungsformen von Erde und Himmel beobachten, daß er genügend Stoff für eine moderne Odyssee zusammenhatte.“

Von der Realität einer als rasend empfundenen Durchquerung des Raums ohne Chance von Ausblicken, an denen sich Gedanken und Empfindungen knüpfen ließen, erscheint die Postkutschenfahrt als liebenswertes Idyll. Daß sie in Wirklichkeit einst meist als Qual erlebt wurde, zeigt Karl Philipp Moritz' Bericht von eben einer solchen Fahrt auf dem Außensitz durch George Eliots Midlands im Jahre 1782:

„Das Hinaufklettern allein war schon mit Lebensgefahr verknüpft, und als ich nun oben war, kam ich gerade an eine Ecke auf der Kutsche zu sitzen, wo ich mich bloß mit einer Hand an einem kleinen Griff halten konnte, der an der Seite der Kutsche angebracht war. Ich saß dem Rade am nächsten, und sobald ich herunter stürzte, sah ich einen gewissen Tod vor Augen. Nun rollte es mit der entsetzlichsten Geschwindigkeit auf den Steinen fort, und wir flogen alle Augenblicke in die Höhe, so daß es beinahe ein Wunder war, daß wir immer wieder auf die Kutsche zurück und nicht einmal nebenher fielen. So ging es nun auch, so oft wir durch ein Dorf oder eine Anhöhe hinunter kamen.“

Es ist geradezu ein Topos der Literatur des 19. Jahrhunderts, dem neuen Verkehrsmittel Eisenbahn vor dem Hintergrund verklärter Postkutschenerinnerungen jeden Erlebniswert abzusprechen. Der gleiche Topos aber wird von Theroux bemüht, nur daß jetzt das Flugzeug den Platz des ereignislosen Verkehrsmittels einnimmt:

„Von den wenigsten Flugreisen gibt es etwas zu berichten. Mitteilenswert wäre ja nur Schreckliches, daher ist ein glücklicher Flug nur negativ zu beschreiben: Keine Entführung, kein Absturz, keine Reisekrankheit, keine Verspätung, keine Lebensmittelvergiftung.“

Die Parallelität zwischen George Eliot und Theroux geht so weit, daß sie beide für das jeweils modernere Verkehrsmittel den gleichen verächtlichen Begriff 'Röhre' bemühen:

„Der Flugreisende klettert in eine mit Teppich ausgelegte Röhre, die nach Desinfektionsmittel riecht, und wird festgezurrt.“

So schält sich als eines der Charakteristika der Reiseliteratur heraus, daß sie die Vorzüge von Verkehrsmitteln erst dann zu würdigen bereit ist, wenn diese schon technisch überholt sind. Die Wahrnehmungsgewohnheiten der Reiseschriftsteller sind also äußerst konservativ. Erst 1983 konnte ein Eisenbahn-Reisebuch mit dem George Eliots Feststellung geradewegs widersprechenden Untertitel Eine Eisenbahn-Odyssee erscheinen, wobei der Verfasser Alexander Frater seiner Fahrt deswegen nicht unerheblichen Reiz abgewinnt, weil er sich eines überholten Transportmittels bedient:

„Die Tatsache, daß Züge auf Nebenbahnen quasi ein aussterbendes Geschlecht sind, verlieh meinem Unternehmen eine besondere Note. Die meisten Eisenbahner auf den Nebenstrecken sind davon überzeugt, in etwa zehn Jahren keine Züge mehr in Betrieb halten zu können.“

Die Beobachtung, daß die Wahrnehmungsgewohnheiten der Reiseschriftsteller konservativ sind, bestätigt auch ein Blick auf die Reiseführer des Eisenbahnzeitalters. Nicht Aussichten aus dem Zugfenster werden in Murrays oder Baedekers Publikationen gepriesen, sondern die schnellsten Verbindungen und durchgehende Schlafwagenläufe. Die Informationen, die über das rechts und links der Trasse Liegende ausgebreitet werden, sind nach dem Prinzip der Enzyklopädie konzipiert, keinesfalls jedoch auf die Wahrnehmungsbedingungen des Reisenden abgestimmt. Den Verfassern der Reiseführer kam es nie in den Sinn, ihren Lesern das Erlebnispotential von am Zugfenster vorbeiziehenden fremden Landschaften aufzuschließen.

So gab es noch kein Beschreibungsmodell für die Eisenbahnreise, als Theroux - mit historischer 'Verspätung' - über seine Unternehmungen zu schreiben begann.

3. „Der alte Patagonien-Express“: Neuer Reisebericht und literarische Tradition.

In seinem zweiten Reisebericht, in dem Buch „Der alte Patagonien – Express“, setzt Theroux die Eisenbahnreise zu einer inneren Entwicklung des Berichtenden in Beziehung und vermeidet so mit Erfolg, den Eindruck sinn- und ergebnislosen Reisens aufkommen zu lassen. Über den Titel des Bandes erweckt er von vornherein beim Leser die Erwartung, einen Bericht in der Tradition jener Patagonienreisenden vor sich zu haben, denen das Erlebnis trostlos gewaltiger Landschaften bislang ungeahnte Einsichten erschloß: Charles Darwin handelte von dieser Erfahrung in seinem berühmten Reisebericht „Die Reise der Beagle“, und Hudson in „Müßige Tage in Patagonien“. Beide Werke werden in Theroux' „Der alte Patagonien-Express“ unter Angabe der Quelle zitiert und paraphrasiert.

Gemeinsames Kennzeichen der so heraufbeschworenen Reiseberichte Darwins und Hudsons ist die Reflexion über den intensiven Einfluß, den die besuchte Landschaft auf Geist und Seele des allein Reisenden Menschen ausübt. Trotz der überwiegend naturwissenschaftlichen Interessen der beiden Forscher wird in ihren Texten auch eindringlich von der unwiderstehlichen Kraft gesprochen, mit der öde und wüstenhafte Landstriche das Innere des Reisenden berühren. So unfaßbar gewaltig sind dabei aber die von der äußeren Szene evozierten Gefühle und Stimmungen, daß sie präzise nicht beschrieben werden können. Hudson erklärt beispielsweise:

„Erst nachdem ich Patagonien gesehen habe und seine Ausstrahlung erlebt hatte, konnte ich ermessen, wie viel mir seine Einsamkeit und Trostlosigkeit bedeuten würde, welch neuartige Erkenntnis es vermitteln konnte und welch bleibenden Einfluß es auf meine innere Haltung ausüben sollte.“

Nur ein Stück des vorgezeichneten Wegs zu einer mystischen 'Wiederherstellung der Einheit von Individuum und Umwelt' - wie Hudson formuliert - folgt Theroux freilich diesen Vorlagen. An einer Passage aus Darwins Reise der Beagle sei gezeigt, welche Konsequenzen aus der Begegnung mit wüstenhaften Einöden in Theroux' Reiseberichten ebenfalls gezogen werden und welchen sich der Reisende dort verweigert.

Darwin resümiert seinen Eindruck von Patagonien mit den Worten:

„Warum - und das ist eine Frage, die nicht nur mich beschäftigt, - warum nur steht mir diese unfruchtbare Einöde so eindrucksvoll in Erinnerung? Ich sehe mich schwerlich imstande, die damit verbundene Erregung zu erklären, aber sie muß zum Teil auf die Freiheit zurückzuführen sein, die sie dem Geist eröffnet. Die Ebenen Patagoniens sind grenzenlos, und ebenso wenig vermag man sich ein Ende ihrer zeitlichen Existenz vorzustellen. Wenn, wie man in der Antike annahm, die Erdscheibe von unüberwindlichen Fluten oder aber von unerträglich heißen Wüsten umgeben wäre, wer würde dann nicht mit mächtigen, aber doch auch vagen Empfindungen seinen Blick auf diese äußerste Grenze menschlicher Erkenntnis richten.“

Solche Eindrucksintensität ist freilich von einem Bahnreisenden nicht zu erwarten, der stets das erlebnisabschirmende Moment des heimeligen Abteils zu nutzen trachtet und denn auch vor der Begegnung mit dem wildesten Teil Patagoniens bezeichnenderweise gesteht:

„Am allerwenigsten aber wollte ich aus der Geborgenheit dieses Zuges hinaus in die unberechenbare Welt draußen. Im Zug war es zwar schmutzig, aber ich hatte hier eine Art Nest; draußen dagegen war Leere, und nichts war dort unmöglich.“

Indes: Auch diesen Reisenden führt seine letzte Fahrt "recht nahe an den Rand der Erde", und auch bei ihm stellt sich - wie in Darwins Bericht vorgezeichnet - das Gefühl der Raum- und Zeitlosigkeit ein:

„Ich duselte ein und wachte wieder auf, die Stunden verstrichen, aber die Landschaft vor dem Fenster änderte sich nicht. Auch die Bahnhöfe sahen einander zum Verwechseln ähnlich. Ich war mir sicher, im Nirgends zu sein.“

So gerät der Reisende zuweilen in die Nähe jener geheimnisvollen Erfahrung von der Wirkung der Natur auf die Seele, und er erlebt - unter dem psychologischen Einfluß der monotonen Bahnfahrt - als eine Art Vorstufe zu visionären Einsichten immer wieder die regressive Bilderschau im tranceartigen Zustand:

„Ich verbrachte den Nachmittag auf der Bahn wie schon viele andere in Zügen auf den beiden amerikanischen Kontinenten. Ich dachte an Leute, die sich mir gegenüber gemein benommen hatten; mir fielen peinliche Situationen aus meinem Leben ein; ich ging meine kleinen Triumphe und meine zerschlagenen Hoffnungen durch.“

Im Gegensatz zu Darwin und Hudson weicht dieser Bahnreisende den am Ende seiner Fahrten vielleicht möglichen Empfindungen kosmischer Harmonie aber aus:

„Für mich bildete die eigentliche. Leere, in die hinaus der unerschrockene Reisende aufbricht, die Grenzlinie.“

Der Sprecher des neuen Typs von Reisebericht soll nicht ein Erlebnis wiederholen, das anderen schon gelungen war; vielmehr gilt sein Interesse den Erkenntnismöglichkeiten, die die Fahrt birgt, nicht aber denen, die im Ziel liegen könnten. Im Reisebericht „Der alte Patagonien-Express“ wird also der Bahnreisende als Subjekt porträtiert, das unter dem Eindruck der Fahrt sich entwickelt und schließlich zu einer neuen inneren Haltung, zur Tugend beharrlicher Geduld nämlich, findet - und dies, obwohl die Eisenbahnfahrt von Boston nach Esquel ursprünglich als Vergnügungsreise geplant gewesen war:

„Diese Reise sollte mir Spaß machen - eine Ausdauerprüfung oder Geduldsprobe war nicht beabsichtigt.“

Wie der Reisende in „Abenteuer Eisenbahn“ gewinnt zwar auch er schließlich den Eindruck des immergleichen Ausblicks, aber ihm vermittelt gerade diese Monotonie der Ödnis die entscheidende Lehre und bringt ihm eine Geduld nahe, von der er zunächst nichts geahnt hatte:

„Diese Landschaft lehrte mich Geduld, Umsicht, Zähigkeit.“

Am Ende hat er also aus der Beobachtung der öden Landschaft vom Fensterplatz aus gelernt, seiner antizipierenden Unruhe Geduld entgegenzusetzen:

„Das Ziel war nahe; ich war gespannt. Indes - diese Landschaft lehrte mich Geduld, Umsicht, Zähigkeit. Man mußte sich in sie versenken, um sie wahrnehmen zu können. Nur einen Blick auf sie zu werfen, brachte keinerlei Aufschluß.“

So erweist sich - paradoxerweise - der Panoramatische Blick aus dem Zugfenster als Schule beharrlichen Naturstudiums, und dauernde Bewegung lehrt hartnäckige, umsichtige Geduld.

Der Entwicklung dieses Reisenden förderlich ist freilich, daß der Benutzung der Bahn in Südamerika eine der damit untrennbar verbunden scheinenden Qualitäten abgeht: Die der Berechenbarkeit von Ort und Zeitpunkt von Abfahrt und Ankunft. Dieses unerwarteten Umstands wegen erlebt der Reisende eine ganze Reihe von Irritationen; diese aber tragen entscheidend dazu bei, daß er von Tag zu Tag spielerischer und gegenwartsorientierter zu leben lernt:

„Natürlich, ich war nicht in Europa. Hier hingen keine Fahrpläne aus, Auskünfte waren kaum zu erhalten, und wenn, dann nur am Bahnhof selbst, wenn ich ihn finden konnte. Die Unsicherheit war erst am Reisetag selbst auszuräumen. Immer wieder ging ich zu einem Fahrkartenschalter, nannte mein Reiseziel, und immer wieder zeigte der Kartenverkäufer so etwas wie ungläubige Überraschung, als sei ich dem von ihm gehüteten Geheimnis durch eine hinterhältige List auf die Spur gekommen. In der Tat kam mir dies alles wie ein mühsames Spiel vor, bei dem ich etwas suchen mußte, das sich mir oft entzog: Die Abfahrtszeit zu ermitteln, den Bahnhof zu finden, die Fahrkarte zu kaufen, den Zug zu besteigen und einen Platz zu belegen - all dies wurde schließlich Selbstzweck. Auf solche Weise erwirbt der Patagonienreisende schließlich gelassene Beharrlichkeit. Zwar wird ihm - als Eisenbahnpassagier - kein mystisches Naturerlebnis in der Einsamkeit zuteil wie seinen Vorläufern Hudson und Darwin, aber zum Ende der Reise schließt auch bei ihm ein Prozeß der Bewußtseinsbildung ab.“

Freilich begegnet Theroux' Reisender nicht der literarisch vorgegebenen und angestrebten grenzenlosen Leere der Ödnis, freilich entzieht sich dem Zugreisenden die Erfahrung einer spirituellen Wiedergeburt:

„Eigentlich hatte ich in Esquel am Karsamstag ankommen wollen, um am Ostersonntag aufwachen und den Sonnenaufgang erleben zu können. Aber Ostern war jetzt vorbei. Heute war kein bedeutsamer Tag.“

Der Reisende bleibt Durchschnittsmensch, obwohl er mit dem Anspruch aufgebrochen war, jene besondere Patagonien-Erfahrung zu machen:

„Ich verfolgte einen solchen Plan. Aber in diesem Zug, dem alten Patagonien-Expreß, sah ich aus wie alle anderen auch; nicht ordentlich rasiert, aber doch noch ansehnlich.“

Dennoch bot die Eisenbahnfahrt Gewinn:

„Das Ankommen war bedeutungslos: Allein die Fahrt war wichtig.“

So zeichnet sich der Reisebericht „Der alte Patagonien-Express“ durch eine über die Reisechronik geordnete Gesetzmäßigkeit aus: Die dauernde Entfernung vom Elternhaus, wie es einmal heißt, wird zur Annäherung an Lebensmaximen eigener Art, und die scheinbar bloß chronologisch geordneten Aufzeichnungen sind zugleich die Geschichte des Erwerbs grundlegender Lebensweisheit.

Zusammenfassend kommt also Theroux das Verdienst zu, den Stoff 'Eisenbahnreise' in den Reisebericht eingeführt zu haben. Diese Neuerung kommt historisch verspätet; indes ist es nicht untypisch für diese Art von Literatur, vorzugsweise erst für lang erprobte Wahrnehmungsformen literarische Beschreibungsmodelle zu entwickeln.

Zeichnete „Abenteuer Eisenbahn“ noch die Reduktion des Eisenbahnreisenden auf einen Beförderungsfall nach und gibt damit nachträglich den Befürchtungen der Autoren des 19. Jahrhunderts recht, so gelingt es Theroux in „Der alte Patagonien-Express“, die für die Eisenbahnfahrt charakteristischen Wahrnehmungsbedingungen so in die Reiseliteratur einzubringen, daß die Wirkungen einer Eisenbahnreise auf das Individuum beschreibbar geworden sind.

Dieser Schritt gelang, weil der Eisenbahn-Reisebericht „Der alte Patagonien-Express“ zugleich als Mitglied einer literarischen Reihe verfaßt wurde: Erst über die Modifikation der Erwartungen, die der Leser von, Patagonien-Reiseberichten hegt, glückt Theroux die Definition solch tieferer Einflüsse, wie sie das Reisen mit einem mechanischen Transportmittel zur Verfügung stellen kann.

Zitierte Texte:

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Stephan Kohl: Reiseliteratur im Zeitalter mechanischer Transportmittel
In "Reiseleben" Heft 14, S. 7-21.
(Holzminden: Ursula Hinrichsen; 1987)
ISBN 3-922293-12-3


Verkehrskultur der KutschenzeitTable of contentsDer Reisende im Zickzack - RUDOLF TOEPFFER

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