Reisen und leben, Heft 16 / 1988

Alex W. Hinrichsen:

5. Lernbörse Reisen

Vom 29. bis 31. Januar 1988 fand auf Einladung der Thomas-MorusAkademie Bensberg in Bonn-Venusberg die 5. Lernbörse Reisen statt. Die Leitung hatte Dr. Wolfgang Isenberg, der schon die Tagung über die heutige Reiseführer-Literatur in Köln im November 1987 geleitet hatte (siehe dazu Heft 15 von REISEN UND LEBEN).

Die Konzeption sah folgendes vor:

- (gemeinnützigen/privatwirtschaftlichen) Veranstaltern und Anbietern von Reisen, internationalen Begegnungen und Workcamps,
- Reiseleitern, Reisebetreuern, Animateuren,
- Reisepädagogen, Reisedidaktikern,
- Wissenschaftlern und Forschern mit tourismusbezogenen Themen,
- Reisejournalisten und
- engagierten Reisenden

einen Meinungs- und Informationsaustausch zu ermöglichen.

Um es gleich vorweg zu nehmen, ich habe während dieser Tage so viel gesehen und gelernt, was heute alles an Reisen und Reisevariationen angeboten wird, daß ich es manchem Verbandstheoretiker wünschen würde, dieses nur einmal kennenzulernen. Die Erkenntnis ist in mir gereift, daß besonders die halbstaatlichen und kommunalen Stellen in der Bundesrepublik mit ihrem "Angebot" am Markt der jungen Generation vollkommen daneben liegen.

Die Lernbörse Reisen war in fünf große Zeitkomplexe unterteilt, in denen jeweils zwischen fünf und zehn Arbeitsgruppen mit einführenden Referaten angeboten wurden. Jeder zeitliche Komplex hatte wieder fünf Unterabteilungen: I. Konzepte, Projekte, II. Themen, III. Tourismuswissenschaft, -kritik, IV. Arbeiten im Tourismus. V. Workshops.

Dazu waren ein Info-Stand und ein Reisebüro aufgebaut, es gab ein ausführliches Programm mit Kurzfassungen der Referate und es sollte eine Tagungszeitung geben (die bis heute bei mir nicht angekommen ist!). über verschiedene Animationsversuche versuchte man, Kontakte zwischen den rund 200 Teilnehmern zu knüpfen, was einigen von uns älteren etwas Schwierigkeiten bereitete.

Es war also für Nur-Teilnehmer die Auswahl zu treffen, welche Themen bzw. Themengruppen ausgewählt werden sollten, um entweder einen Aspekt durchgehend abzudecken oder mehrere Themenkomplexe vergleichend zu hören und mitzudiskutieren. Für Teilnehmer, die auch Referenten waren, waren Diskussionen und Ergänzendes zu eigenen Vorstellungen ein Anreiz, oft zwischen den Gruppen zu pendeln und mit Papieren von anderen Referenten in freien Minuten nachlesend den Anschluß zu wahren. Aus der Fülle des Angebotenen greife ich nur einige Themen nachstehend heraus:

Sportangebote bei Jugendreisen zwischen Bildung und Animation;
Tourismus mit Einsicht;
Bedeutung, Möglichkeiten und Grenzen des Kontaktes zu "Land und Leuten";
Entwicklungsgeschichte von Stattreisen Hamburg; Homestay-Programme;
Tourismus in der Dritten Welt: Bali;
Selbst- und Umweltorientierung im Urlaub;
- Das Erleben des Individualreisenden im Pauschalreisebetrieb;
- Lernen auf Reisen - Lernen mit Bildern;
- Reisepädagogik: Konzepte und Aktionen.

Es gibt heute Arbeitsgruppen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, den Auslandstourismus nicht mehr als billiges Reisevergnügen von Weltenbummlern auf Kosten des besuchten Landes zu sehen, sondern den Reisenden verständlich zu machen, daß die Menschen des zu bereisenden Landes und deren Kulturgut zu achten ist. Auf der Lernbörse Reisen wurde dieses sehr gut vorgestellt, und zwar von jungen Menschen, nicht von altgedienten Reiseveranstaltern und Reiseleitern. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit hat eine Broschüre zusammengestellt mit dem Titel: "Reisekompaß für Reisen in die Dritte Welt", die auch mit vielen praktischen Hinweisen und Adressen auf ein verständnisvolles Reisen hinarbeitet. In dieser Broschüre sind Aufkleber enthalten mit der Aussage: "Die Welt gehört allen". - Auf der Internationalen Tourismus-Börse in Berlin wurde im März diese Arbeit auf einem Gemeinschaftstand der Arbeitsgruppen fortgesetzt. Die Zusammenarbeit wird unter dem Begriff der Arbeitsgemeinschaft "Tourismus mit Einsicht" durchgeführt. 17 Organisationen aus der Bundesrepublik, der Schweiz, Österreich und Thailand sind in dieser Arbeitsgemeinschaft vereint. Auch sie haben eine sehr verständliche Broschüre herausgebracht. Sie ist zu erhalten bei: Arbeitsgemeinschaft Tourismus mit Einsicht, c/o Herbert Hamele, Hadorfer Str. 9b, D-8130 Starnberg.

Zum Abschluß des Berichtes über die Lernbörse Reisen gebe ich mein dafür erstelltes Thesenpapier zur Tourismuserforschung wieder, das einen Vergleich mit dem vorhergehenden Aufsatz von Eder/Klemm vom Institut für Tourismus an der FU Berlin zuläßt:

Warum historische Tourismusforschung?

Das Reisen hat sich von der Bildungsreise Adeliger und Reicher zur Massenbewegung mit unterschiedlichen Wünschen und Vorstellungen entwickelt.

"Anleitungen zum Reisen" beeinflussen Reisewünsche und umgekehrt wurden/werden Industrien entwickelt durch das Reisen.

Tourismus ist ein Stück Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. über die Einflüsse bestehen bisher zu wenige Erkenntnisse.

Es gilt also, das Sammeln, Auswerten und Schlußfolgern als Grundlage für heutige Tourismusformen voranzubringen.

Tourismusgeschichte

charakterisiert Veränderungen der Landschaft, privatwirtschaftlicher Handlungsweisen sowie der Infrastruktur, die sich auf Nutzungen durch Reisende beziehen. Darüber hinaus werden auch Veränderungen charakterisiert, die sich auf Verhaltensweisen und Gewohnheiten der Reisenden aber auch auf die der Bewohner der bereisten Länder und Gebiete beziehen.

Stichworte:

- Industriegeschichte
- Verkehrsentwicklung des 19./20. Jahrhunderts
- Architekturgeschichte

Pilger-, Bildungsreisen

19. Jahrhundert Beginn des touristischen Reisens als Erholungs- bzw. Vergnügungsreise.

touristisches Reisen

- nur eine Folge technischer Entwicklung?
- nur eine Folge des sich hebenden materiellen Lebensstandards?
- oder auch eine Folge der Veränderung der Gesellschaft?

Verkehrstechnische und administrative Beschränkungen erfahren Veränderungen zur Erleichterung hin:

- Strassenbau (Simplon um 1805)
- Zollvereine
- Eisenbahn
- Dampfschiffahrt
- großräumigere politische Einheiten

Beginn des Massentourismus durch Reiseveranstalter wie Cook und Stangen

Begriffe:

- Fremdenverkehr (seit 1856)
- Reisepöbel
- Begierden der Einheimischen

Gründung von Vereinen:

- Alpine Clubs
- Hotelvereinigungen
- Verkehrsvereine
- Verbände

Reiseinformationsliteratur mit Empfehlungen und werblichem Einschlag:

- Reisehandbücher
- Panoramen und Routenkarten
- Ansichten als Souvenir
- Fahrpläne
- Plakate
- Ansichtskarten
- Photographie

Es werden zur Hebung des Fremdenverkehrs Einrichtungen erbaut:

z.B. türkisches Kaffeehaus in Wolfenbüttel als Ausflugsziel zur Benutzung der neuen Eisenbahn von Braunschweig aus.

Lustreisen mit Programm soziale Auswirkungen:

- das Weltbild des Reisenden erweitert sich
- die Kenntnis der Einheimischen über die Reisenden und deren Gewohnheiten nimmt zu
- Veränderungen der bereisten Gebiete

wirtschaftliche Auswirkungen:

- es entstehen neue Wirtschaftszweige
- Hotellerie im neuen Umfang
- Ferienorte
- Verlage
- Reisebüros
- Agenturen
- andere Wirtschaftszweige bekommen Aufträge
- Multiplikatoreffekt des Fremdenverkehrs
- neue Angebotsformen entwickeln sich (in St. Moritz wird das Skifahren erfunden)

Fremdenverkehr wird ein Konsumgut, von dem (auch) fast alle Wirtschaftszweige profitieren.

Heute ist das Angebot größer als die Nachfrage: Implikationen?

Entwicklung des Tourismus:

Reisen Einzelner - Reisen zu besonderen Anlässen (z.b. Pilgerreisen) - Reisen zum Vergnügen - Auswanderer - Gruppenreisen - Entwicklung der bereisten Gebiete (z.B. Interlaken) - Informationshilfen - Anbieter-Vereinigungen (z.B. Hoteliers) - Verkehrsvereine - regionale Verbände - Reisebüros - Reisewut - Massentourismus

Aussichten:

Reisen ist Konsumgut
Technik ermöglicht das Erreichen jedweden Zieles
es gibt keine Konkurrenzsituation mehr zwischen Zielen im Heimatland und dem "Ausland", sondern nur noch
a) die Reisezeit
b) das Budget
c) das Erlebnisangebot als Entscheidungskriterien
Konkurrenzsituation des Tourismus als Konsumgut zu anderen Konsumgewohnheiten und -möglichkeiten allein ausschlaggebend
Organisationsstruktur der regionalen Verbände wird überflüssig durch neue Kommunikationstechniken und Informationslinien.

Alex W. Hinrichsen: 5. Lernbörse Reisen
In "Reisen und leben" Heft 16, S. 23-28.
(Holzminden: Ursula Hinrichsen; 1988)
ISBN 3-922293-16-6


Historische TourismusforschungTable of contentsHotel- und Reiseratgeber für Behinderte

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