Reisen und leben, Heft 18 / 1989

Hansjörg Kalcyk

Habbo Gerhard Lolling und der Baedeker von Griechenland

"Theben besitzt einige schlechte Garküchen und ein höchst elendes Chani. Wer sich längere Zeit in Theben aufhält, kann in einem Privathause ein Zimmer miethen. Für kürzeren Aufenthalt ist man auf Gastfreunde angewiesen."

Mit diesen Sätzen beginnt reichlich unvermittelt die erste gedruckte Fassung eines Manuskriptes, das in dieser Form nie in den offiziellen Buchhandel gelangt ist. In dem unscheinbaren Band, der sich heute in der Bibliothek des Deutschen Archäologischen Instituts (DAI) in Athen befindet, sind einige handbeschriebene Blätter vor den eigentlichen Druck gebunden. Sie tragen bibliotheksinterne Signaturen und den ebenfalls handschriftlich vermerkten Titel "Griechenland von H.G. Lolling. Ergebnisse der Reisen aus den Jahren 1876 und 1877. Als Ms. gedruckt 1878."

Im Laufe der Jahre bürgerte sich bei den Benutzern dieses Manuskriptdruckes die Bezeichnung "Urbaedeker" ein. Als solcher wird er auch heute noch in der Fachliteratur zitiert.

Doch berichten wir der Reihe nach: Im Jahre 1875 hatten die Verleger Baedeker sich endgültig entschlossen, das Sortiment um ein Reisehandbuch für Griechenland zu erweitern. Griechenland war seit seiner Befreiung vom türkischen Joch nicht nur kulturell wieder näher an Europa gerückt, auch eine Reise dorthin und das Reisen im Lande waren leichter geworden, wenngleich es erst wenige Orte gab, die mit dem europäischen Standard einigermaßen mithalten konnten. Als der Entschluß für das Handbuch gefaßt wurde, hatte Heinrich Schliemann bereits die Königsgräber von Mykene freigelegt (1874), waren die aufgefundenen Schätze in Athen schon einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt worden. Ernst Curtius, ein anderer deutscher Archäologe, trug sich mit dem Gedanken, Olympia auszugraben.

Die Hauptstadt Athen besaß an die 65.000 Einwohner und galt dank der großzügigen Stadtplanung der beiden Architekten Schaubert und Kleanthes schon als europäische Metropole. Kaum noch etwas war übrig geblieben von der "Ansammlung schmutziger Trümmer", die man vorgefunden hatte, als im März des Jahres 1833 die türkische Garnison aus der Stadt abgezogen war. Selbst die Akropolis bot beinahe schon den uns gewohnten Anblick; die türkischen Befestigungsbauten, die Moscheen und Wohngebäude waren ebenso niedergerissen worden wie die beiden fränkischen Türme. Aus dem Abbruchmaterial baute Ludwig Ross den berühmten Niketempel neben den Propyläen wieder auf. Es gab bereits eine abendliche Beleuchtung der Burg, und im Theater des Herodes Attikus am Fuße des Akropolisfelsens fanden unter freiem Himmel die ersten Theaterveranstaltungen statt.

War zu Beginn des Jahrhunderts die Zahl der Reisenden noch gering und relativ überschaubar, so drängte nun nahezu jeder, der sich die Reise leisten konnte, nach Griechenland. Et in Arcadia ego, ein Satz, den Goethe ganz unter dem Eindruck des griechischen Atems in Italien geprägt hatte, konnte direkt und vor Ort ausgesprochen werden, ohne daß man durch türkische Visa, die Schikanen der örtlichen Paschas oder die unsicheren Verhältnisse im Landesinneren daran gehindert wurde. Die Zeit war reif für ein Handbuch, zumal die vielen vorliegenden Beschreibungen durch die rasante Entwicklung des Landes und durch die zumeist allzu subjektive Sicht der Autoren überholt oder gar von vornherein unbrauchbar waren. Manch einer empfahl beispielsweise noch dringend die Mitnahme von Waffen, und Eduard Engel, der diesen Rat noch beherzigt hatte, schrieb später in seinen Griechischen Frühlingstagen (1886), "ich hatte einen Revolver mitgenommen, - ich werde es nicht zum zweiten Male thun: außer einem guten Echo habe ich nur Beschwerlichkeiten davon gehabt."

In der Person Dr. Lüders fanden die Verleger rasch einen kompetenten Autor für ihr Vorhaben.

Wegen anderer beruflicher Verpflichtungen mußte Lüders jedoch seine Mitarbeit absagen. Die neuerliche Wahl fiel auf Habbo Gerhard Lolling, einen Friesen, der seit dem Jahre 1872 als Hauslehrer in Athen für die Söhne des damaligen deutschen Konsuls und Buchhändlers Wilberg tätig war.

Lolling, am 23.11.1848 in Tergast geboren, hatte in Göttingen studiert und promoviert und war schon in Clausthal als Lehrer tätig, als ihm die Möglichkeit eröffnet wurde, diese Hauslehrerstelle für vier Jahre anzutreten. Am 25. April 1872 traf er in der griechischen Hauptstadt ein. In den Jahren seiner Tätigkeit fand er ausreichend Zeit, weite Gegenden Griechenlands zu bereisen. über seine Forschungen, die vorwiegend topographischen Inhalts waren, berichtete er in den einschlägigen Fachzeitschriften. Seit dem Jahre 1873 gehörte er deshalb dem Deutschen Archäologischen Institut in Rom als korrespondierendes Mitglied an. Als im Jahre 1874 das Institut die Zweiganstalt in Athen eröffnete, war Lolling auch hier Mitglied.

Wie die Verbindung zwischen Lolling und dem Verlagshaus Baedeker zustande kam, kann heute nicht mehr gesagt werden. Man ist auf Vermutungen angewiesen, wobei persönliche Verbindungen zwischen Lüders, Lolling, Wilberg und dem Hause Baedeker durchaus bestanden haben können, sei es über das Institut, über die Stellung als Hauslehrer bei Wilberg oder aber über das Verwandschaftsverhältnis zwischen Wilberg und der Familie Baedeker. Bei Wilberg in Athen wurden im übrigen die ersten Jahrgänge der "Athener Mitteilungen", dem offiziellen Organ des DAI, gedruckt.

Kaum war im April 1876 der Vertrag im Hause Wilberg erfüllt, begann Lolling mit den Arbeiten am Handbuch. Im Sommer bereiste er Mittelgriechenland, vorwiegend die Landschaften Böotien und Lokris sowie die Insel Euböa. Erst im Spätherbst kehrte er nach Athen zurück. Das darauffolgende Jahr fand ihn auf der Peloponnes, die er in der Zeit vom 15. April bis 13. Nov. erkundete.

Die Ergebnisse dieser Reisen hielt Lolling in kleinformatigen Notizheften fest. Die Eintragungen erfolgten zumeist vor Ort, teilweise scheinen sie während des Rittes niedergeschrieben worden zu sein. Dieser Arbeitsweise kam die Vorliebe des Ostfriesen für die eher geruhsamen Packpferde zugute.

Wer die seltene Gelegenheit hatte, Lolling auf diesen Reisen und Ritten zu begleiten, mußte auf die wenigen, bereits vorhandenen Annehmlichkeiten verzichten. Schon die einfache Hängematte war ein überflüssiger Luxus, ganz zu schweigen vom Insektenpulver, das zur damaligen Zeit mit jeder Art von Übernachtung in einem kausalen Zusammenhang stand. Als überflüssig erachtete er das Besteck, selbstverständlich auch die damals gerade in Mode gekommenen Taschenbestecke.

Felix von Duhn, ein Wegbegleiter dieser Tage, erinnert sich 40 Jahre später - als Professor für Archäologie in Heidelberg - ausführlich an gemeinsame Tage und ihre eigenwilligen Abenteuerlichkeiten.

Zu Beginn des Jahres 1878 war das Manuskript für den Abschnitt Mittelgriechenland fertig. Baedeker ließ davon, wie es damals in seinem Hause üblich war, einige Abdrucke herstellen, durch die dem Verlag und dem Autor die weitere redaktionelle Arbeit erleichtert werden sollte. Es ist nicht bekannt, wieviele solcher Abdrucke im allgemeinen hergestellt wurden; gute Quellen sprechen von 10 Exemplaren, die vom Lollingschen Manuskript angefertigt worden sein sollen. Eines davon schenkte Lolling der Bibliothek des DAI in Athen, wo es fortan als "Urbaedeker" eingesehen werden konnte; ein weiteres tauchte in dem am 22.3.1939 erschienenen Antiquariatskatalog der Leipziger Firma Harrassowitz auf.

Mit der Übergabe des Abdruckes, der den stattlichen Umfang von 700 Seiten besaß, bat der Verlag seinen Autor, sich bei den noch ausstehenden Lieferungen zu beschränken. Am Rande ist anzumerken, daß jene 700 Seiten - bereits im Satzspiegel der Baedekerausgaben gesetzt - beispielsweise in der letzten Auflage von 1908 - nur die Seiten 133-222 "Mittelgriechenland" umfassen.

Lolling befolgte diesen Wunsch, was sich deutlich in seinen folgenden Aufzeichnungen niederschlug. Im Frühjahr 1878 bereiste er noch die Ionischen Inseln, im Sommer Attika und die Megaris. Zwei Jahre nach Aufnahme seiner Tätigkeit war das Manuskript fertiggestellt. Redaktionelle Arbeiten folgten, und im Spätherbst des Jahres 1880 überprüfte Fritz Baedeker zusammen mit Lolling auf einer Reise durch Griechenland das Handbuch auf seine generelle Tauglichkeit. Weshalb dennoch 3 Jahre vergehen mußten, ehe 1883 endlich die erste Auflage des Baedekers von Griechenland erschien, entzieht sich unserer Kenntnis; wir wissen nur, daß erst im April 1883 sämtliche Überarbeitungen des Manuskriptes beendet waren.

Im Jahre 1879 war Lolling bei Ulrich Köhler, dem Leiter des Deutschen Archäologischen Instituts in Athen "Hülfsarbeiter" geworden.

Durch die Anstellung am Institut erfuhren Lollings bisherige Arbeiten und Forschungen einen anderen Fortgang. Vornehmlich mußte er sich nun mit Inschriften befassen, was jedoch auch weiterhin mit Fahrten durch das Land verbunden war. Wir treffen ihn in Pergamon, wo er Carl Humann behilflich ist oder auf der Insel Lesbos, wo er dem dortigen Ausgräber Robert Koldewey zur Hand geht. Mit Archäologen der griechischen Ephorie führte er zahlreiche Ausgrabungen durch, zu nennen ist Dimini bei Volos in Thessalien, wo eine neolithische Siedlung freigelegt wurde, die für die Erforschung der griechischen Frühzeit von großer Bedeutung werden sollte. Zugleich war dies aber auch eine der ersten Grabungen in Thessalien überhaupt, das erst im Jahre 1881 zu Griechenland gekommen war. Erkenntnisse, die auf diesen Reisen gesammelt wurden, dürften in die 2. Auflage des Baedekers von 1888 eingeflossen sein. Im Vorwort dazu wird nochmals auf die Reisetätigkeit Lollings verwiesen.

Die Rastlosigkeit forderte ihren Tribut. Nach einem Sommer in Böotien kehrte er fiebernd nach Athen zurück. In der Folge zwangen ihn Fieberanfälle immer häufiger zu längeren Arbeitspausen. Dennoch übernahm er im Jahre 1888 eine neue und große Aufgabe: Die epigraphische Abteilung des Nationalmuseums sollte aufgebaut, die Bestände geordnet und katalogisiert werden. So schied Lolling aus den Diensten des DAI aus und trat seine Stellung bei der griechischen Ephorie an, um das immense Inschriftenmaterial zu sichten. Kaum war der Katalog für die Inschriften der Akropolis fertig, starb Lolling am Abend des 22. Februars 1894 in Athen an einem offenbar chronischen Nierenleiden, dem er nie Beachtung geschenkt hatte. Die griechische Ephorie übernahm in dankbarer Würdigung seiner Verdienste das Begräbnis.

Nahezu 22 Jahre seines Lebens hatte Lolling in Griechenland zugebracht, nur ein einziges Mal war er nach Deutschland gereist.

Wenngleich freundlich, soll Lolling kein umgänglicher Mensch gewesen sein. Er besaß, so seine Zeitgenossen, eine gerade, herbe Art und war sehr bestimmt in seinen Gefühlen. Wer aber einmal seine Zuneigung gewonnen hatte, "dem blieb er unwandelbar angetan." Bescheidenheit war ein anderer Wesenszug des Ostfriesen, der sich nicht nur auf den Reisen zeigte. Manch einem der Kollegen in Athen half er aus so mancher Not, wenngleich die eigenen Mittel bescheiden waren, er zudem seine Geschwister in der Heimat nach dem frühen Tod des Vaters ebenfalls versorgen mußte.

Schon bei Lebzeiten galt er in den Athener Runden als der moderne Pausanias. Obwohl er diesen Vergleich nicht allzu gerne hörte, so ist doch viel Wahres daran.

Der jetzt im Reimer Verlag, Berlin, erschienene vollständige und unveränderte Nachdruck des Manuskriptdruckes von 1878 aus der Bibliothek des DAI beinhaltet den Abschnitt Mittelgriechenland mit der Insel Euböa mit allen Druckfehlern, Auslassungen und anderen Mängeln. Bewußt verzichteten die Herausgeber, die Bearbeiter und der Verlag auf eine Veränderung des Textes. Um ihn dennoch nutzbar zu machen, wurden eine ausführliche Einleitung und ein umfangreiches Ortsverzeichnis angefügt. Karten und zeitgenössische Fotos illustrieren den Band und machen ihn zu einem ganz ungewöhnlichen Handbuch für alle jene Griechenlandreisenden, die abseits der touristischen Wege noch die vorhandene Ursprünglichkeit des Landes entdecken wollen - und es nun können; denn mancher Ort hat sich seit Lollings Besuch und trotz allen Fortschritts bis heute nicht verändert.

Es bleibt zu hoffen, daß der Lolling ein Erfolg wird, so daß auch die fehlenden Teile des Manuskriptes, die Peloponnes, Attika nebst Athen und die Megaris noch folgen können. Die Arbeit dazu wird vergleichsweise schwieriger sein, da nur die handschriftlichen Aufzeichnungen des Verfassers vorliegen.

Literaturangaben:

Duhn, Felix v.: Ritt durch den nördlichen Peloponnes vor vierzig Jahren, in: Deutsche Revue 42, 1917, 2, S-49-65, 210-225.
Wolters, Paul: H.G. Lolling, in: Athen. Mitteilungen 19, 1894, S.V-XXII.
Lauffer, Siegfried: Medeaon, in: Athen. Mitteilungen 63/64, 1938/39, S. 181.
Hinrichsen, A.W.: Baedeker-Katalog. Verzeichnis aller BAEDEKER-Reiseführer von 1832-1987 mit einem Abriß der Verlagsgeschichte, Holzminden 1988, S. 29 f.
Neigebauer, J.F./Aldenhoven, F.: Handbuch für Reisende in Griechenland, Leipzig 1840, S. 10.
Heurtley, W.A. u.a.: Griechenland. Altertum-Mittelalter-Neuzeit, Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 1966, S. 84 ff.
Engel, Eduard: Griechische Frühlingstage, Jena 1887, S. 8

Bibliographie:

H.G. Lolling: Reisenotizen aus Griechenland 1876 und 1877. Bearbeitet von Bert Heinrich. Eingeleitet von Hansjörg Kalcyk. Herausgegeben von der Carl Haller von Hallerstein Gesellschaft München und dem Deutschen Archäologischen Institut Athen. 850 S. mit 6 Karten, 20 zeitgenössischen Fotos, Register und Konkordanz der alten und neuen Ortsnamen. Leinen, ca. DM 48,--. ISBN 3-496-00454-1.

Leseprobe:

Wanderung durch das alte Delphi. Trotz aller durch das Gelüste nach den reichen Tempelschätzen veranlassten Plünderungen hatte Delphi auch in den nachchristlichen Jahrhunderten noch eine reiche Fülle der wichtigsten Kunstwerke und historischer Denkmäler aufzuweisen. ... Ging man vom Gymnasion in gerader Richtung zum grossen Heiligthume aufwärts, so traf man zur R. des Weges die Kastaliaquelle mit wohlschmeckendem Wasser, dem die Römer weissagerische Kraft zugedichtet haben. Wie alle berühmten Gewässer zu Töchtern und Söhnen des Hauptflusses Griechenlands, des Acheloos, gemacht wurden, so nahm man ein solches Verhältnis auch bei der Kastalia an; andere nannten das Wasser ein Geschenk des (phokisch - böotischen) Kephissos, also des nächsten grösseren Flusses. Die Einwohner der Stadt Liläa, in deren Gebiet die Hauptquelle des Kephissos (ein Kephalari) liegt, meinten, dass die in die Kephissosquelle geworfenen Opferkuchen in der Kastalia wieder zu Tage träten, tiefer geographischer Weisheit durften sie sich also nicht rühmen.

Hansjörg Kalcyk: Habbo Gerhard Lolling und der Baedeker von Griechenland
In "Reisen und leben" Heft 18, S. 3-8.
(Holzminden: Ursula Hinrichsen; 1989)
ISSN 0936-627X


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