Reisen und leben, Heft 19 / 1989

Renate Völkner-Vree:

Im Zeichen des Buches: Lesezeichen

Was ist ein Lesezeichen (übrigens auch Buchzeichen genannt)? Natürlich wissen Sie das, ich weiß es auch, nur ist es gar nicht so einfach auszudrücken. Die beste Formulierung fand ich in dem Bericht über die Lesezeichenausstellung Carlos Kühn im Jahre 1982 in Wandelhalle der Bücherfreunde von Dieter Lemhoefer, und da ich es nicht treffender in Worte fassen kann, zitiere ich: "Das uns - vor allem den Sammler - interessierende heute übliche Lesezeichen ist ein Wort-, Bild- oder Kombinationsträger in überwiegend rechteckiger, meist länglich-vertikaler Form, auf geeigneter Trägerunterlage (...), ein- oder mehrfarbig, meist als loses, in ein Buch einzulegendes Werkzeichen, mit oder ohne künstlerischen Anspruch, kommerziell oder als Liebhaberarbeit gestaltet."

In dem nicht zitierten Teil geht der Verfasser auf Materialien ein, deren Aufzählung ich noch etwas hinzuzufügen habe; sie sind ungemein vielfältig: Papier, Karton, Pappe, Holz, Holzfurnier, Leder, Pergament, Stoffe von Seide bis Wolle, Metalle aller Art, Dinge aus der Natur, Kunststoffe - und Kombinationen, und dieses alles beschrieben, bemalt, bedruckt, bezeichnet, be-fotografiert, geprägt, gestempelt, gestanzt, geschnitten, eingelassen, geformt, bestickt, gestrickt, gehäkelt, genäht, beklebt... Kaum eine Form künstlerischer oder kunsthandwerklicher Art ist ausgelassen.

Die Funktion des Lesezeichens, nämlich die "es in ein Buch einzulegen", hat jede/r schon ausprobiert, die/der ihr/sein Buch nicht stets in einem Zug durchliest. Aber was macht der lesende Mensch, wenn keins, das als solches ausgewiesen ist, zur Hand ist: ob Zeitungsschnipsel, Lottoschein, Haarklemme, Brotmarken, Personalausweis, Fahrkarte, Fotos, gepreßte (oder leider auch frische) Blumen und Blätter, Geldscheine - alles ist im Augenblick recht und wird - die Antiquarin und der Antiquar können's bezeugen - vergessen. So manche kleine oder größere Tragödie mag sich dahinter verbergen ...

Und wenn alles das auch nicht da oder griffbereit ist? Was dann? Batsch, die Seite umgeknickt - und das gute alte Eselsohr ist wieder da. Ein Eselsohr ist wahrhaftig nur da schön, wo es hingehört, nämlich am Esel selbst!

Bei der schier unendlichen Flut der Buchproduktion seit der Erfindung der Schnelldruckpresse durch F. König (1811), der Setzmaschine Linotype durch Mergenthaler (1884) und Monotype durch Lanston (1897), der Rotationsmaschinen... ist der Respekt vor dem Buch stetig gesunken, was sich denn auch an farbenprächtigen Anstreichungen, Kritzeleien oder den oben angeführten Eselsohren beweist.

Im buchfürchtigen Mittelalter war so etwas glücklicherweise undenkbar. Schmale, lange Pergamentstreifen oder Seiden- und andere gewebte Bändchen sind die stilvollen Buchbegleiter dieser Zeit (womit wir schon mitten in der Lesezeichen-Geschichte wären, die in ihrer wechselvollen Gestaltung in wenig wechselnder Gestalt doch ein Ausdruck ihrer Zeit und manchmal sehr persönlicher Dinge ist). Um ein Hineinrutschen in das Buch zu vermeiden, werden die Buchzeichen mit einem geflochtenen Kopf aus kostbaren Materialien versehen, aus dem dann ein oder mehrere Bändchen herauskamen (leider, leider: so etwas Schönes ist mir nur aus Abbildungen bekannt. Macht nichts, die große Zeit der Sammlerinnen und Sammler kommt noch!).

Später, im 16. Jahrhundert, begann man, die Bänder direkt mit dem Buch zu verbinden, indem man sie oben am Kapital befestigte, was sich bis heute bei einigen sorgfältig gefertigten Büchern erhalten hat. so verlor sich der Kopf, weil er überflüssig wurde...und damit ein wesentliches Schmuckelement. Diese Buchzeichen oder Zeichenbänder konnte man natürlich nicht sammeln. Interessant wurde es erst wieder, als die Bändchen am unteren Ende mit anhängenden Bildchen, Kreuzchen aus Gold oder Silber, Perlen, Herzchen und dergleichen versehen wurden - zuerst eingebunden, später lose. Und damit begann unsere - des Sammlers und der Sammlerin - spannende Zeit: das lose und damit überhaupt erst sammelbare Lesezeichen trat seinen bis heute ungebremsten Lauf an.

Das war so Mitte bis Ende des vorigen Jahrhunderts, das ohnehin auch auf unserem Gebiet reich an gestalterischen Möglichkeiten war. Da gab es die gestanzten und geprägten Papierkanevas, die zum Besticken einluden - teilweise waren sie zusätzlich noch mit Chromolithographien verziert, oder auch die religiösen Inhalts, die ohne schmückende Prägung am Rande auskommen mußten, weil die Herstellungsweise nach dem 1. Weltkriege zu kostspielig geworden war. Da gab es die aus gewalzter Gelatine, die sich wegen der Brüchigkeit des Materials wohl nur selten erhalten haben und die aus Zelluloid, die vorgefertigte Sinnsprüche weltlichen oder religiösen Inhalts enthielten, dann privat bestickt und als persönliches Geschenk beliebt waren.

Um 1880 kam dann die Welle der "Werbeträger". Und somit gelangte das bisher nur seiner ursprünglichen Funktion in mehr oder weniger künstlerischer Ausgestaltung dienende Lesezeichen zu einer ganz neuen Bedeutung.

Alle möglichen Branchen nahmen sich seiner an und nutzten die billigen, aber höchst werbewirksamen Quadratzentimeter für ihre Zwecke. Und die Gebrauchsgraphik fand hier ein schier unendliches Feld für ihre Kunst. Ganze Serien kamen heraus und wurden unter's Volk gebracht. Die älteste mir bekannte Serie ist die der Firma Mellin (Mellin's Nahrung für Kinder und Magenleidende) ca. aus dem Jahre 1885. Weitere 5 wurden bei Meixner, München, auf der 16. Spezialauktion am 14. Mai 1988 angeboten.

Man ging dazu über, Lesezeichen als Zugaben und Werbegeschenke beizulegen. Politische Parteien jeder Couleur bedienten sich des Lesezeichens, um ihre Sprüche zu verteilen; Vaterlandsliebe wurde per Lesezeichen dokumentiert. Auch heute verschmähen Organisationen, Parteien, Städte, Kirchen und staatliche Einrichtungen wie auch die verschiedensten Branchen immer noch nicht dieses hübsche kleine Ding - unser Lesezeichen.

Natürlich stellt der größte Block dieser Werbung die Buchbranche selbst: Von der Werbung für einzelne Autoren/innen oder gestaltende Künstler/innen über Verlage und Druckereien bis zur Buchbinderei und den Buchhandlungen und Antiquariaten - das ganze bunte Spektrum, das zur Herstellung und zum Verkauf eines Buches notwendig ist, ist hier vertreten.

Zu erwähnen wären noch die "Selbstgestrickten", die jedes für sich eine kleine Kostbarkeit darstellen: sie sind doch einzig und manchmal Ausdruck von sehr persönlichen Anliegen.

Literatur:

Coysch, A.W.: Collecting Bookmarkers, Newton Abbot-London-Vancouver 1974,
Forrer, R.: Mittelalterliche und neuere Lesezeichen, in: Zeitschrift für Bücherfreunde, Jg. II 1898/99, S. 57-62.,
Lemhoefer, D.: Berliner Bibliophilen-Abend e.V., Veranstaltung am 29.3.1982, in. "Wandelhalle der Bücherfreunde", 24. Jg., heft 3, 1982, S. 144ff.,
Peiske, Chr., in: "ABC des Luxuspapiers": Herstellung, Verarbeitung und Gebrauch 18601-1930, Museum für Deutsche Volkskunde, Berlin 1983,
Pieske, Chr.: Zur Geschichte der Lesezeichen, in: "Philobiblon", Jg. XXVIII, Heft 1, März 1984, S. 13 'ff.,
Winkler, R.A.: Lesezeichen (Was sie sammeln LX), in: "Aus dem Antiquariat", Heft 6, 1984, S. A 210ff..

Renate Völkner-Vree: Im Zeichen des Buches: Lesezeichen
In "Reisen und leben" Heft 19, S. 34-36.
(Holzminden: Ursula Hinrichsen; 1989)
ISSN 0936-627X


Karl Baedekers AutographensammlungTable of contentsSchreger: Reisediätetik

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