Reisen und leben, Heft 19 / 1989

Klaus Beyrer:

Helmut Popp (Hrsg.): In der Kutsche durch Europa

Dem Wandel des Reisens (und so auch der Reiseliteratur) im Zeitalter des Postkutschenverkehrs gilt seit nunmehr gut einem Jahrzehnt das besondere Interesse einer unvermindert regen Kulturforschung. An Stoff herrscht bekanntermaßen kein Mangel. Die Zahl zeitgenössischer Reisebeschreibungen ist Legion. Sie geben Aufschluß über Motive und Verhaltensweisen, Ideale und Leidenschaften, Nöte und Zwänge. Ihnen liegen vielgliedrige Erfahrungsprogramme zugrunde, für die etwa das Bildungsprinzip bestimmend ist und die wiederum oft mit den Beschreibungsmustern des Reisens unmittelbar korrespondieren. Auch im Falle der Kutschenliteratur.

Klammerten noch die orthodoxen Gelehrten des frühen 18. Jahrhunderts das Thema der Reisemodalitäten in ihren Aufzeichnungen völlig aus, weil es als "lästige Ablenkung vom Wesentlichen" erschien (Stewart 1978), so hält im Zuge der Aufklärung der Reisealltag Einzug in eine nicht zuletzt politisch begründete Beschreibungspraxis. Erstmals erfahren wir, obgleich anfangs zögerlich, wie es in der Kutsche und wie auf dem Postwagen zuging.

Der große Wurf gelang damals einem Außenseiter: Johann Timotheus Hermes. Sein zwischen 1769 und 1773 entstandener Briefroman "Sophiens Reise von Memel nach Sachsen" sollte sogleich in die Niederungen einer empfindelnden, freilich hochmoralisch gemeinten Unterhaltungsliteratur führen. Das Rezept, dessen sich der Roman bediente, war denkbar schlicht (und folglich erfolgversprechend): ein schutzloses Frauenzimmer im Verein dubioser Passagiere (Künstler, Kaufleute, Offiziere), dazu eines Postillions, der sich mit Branntwein korrumpieren läßt. Es darf also mit abenteuerlichen Verwicklungen gerechnet werden. Sophie konstatiert einmal: "wie können Obrigkeiten nur zulassen, daß kaiserliche Postwagen für ein hülfloses Mädchen unsicher sind, da es doch unmöglich ist, daß Väter und Brüder uns immer begleiten können?"

Die Anthologie Helmut Popps bleibt ihren Lesern das prächtige Postwagenabenteuer der Hermes'schen Reisegesellschaft schuldig. ob aus Nachlässigkeit oder Absicht, ist nicht zu ermitteln. doch sieht der verwöhnte Kritiker sich angesichts einer bunten Palette einschlägiger Reiseerlebnisse bequem entschädigt. Rund 100 Quellen sind es, die Popp zusammengetragen hat, was ja nicht wenig ist. Gründliche Vorarbeiten aus dem Umfeld der Reiseforschung dürften die Suche nach geeigneten Fundstücken erleichtert haben, die manchenteils notgedrungen in gekürzter Form vorgestellt werden. Von Haus aus Germanist, hat Popp sich dem Gattungswandel - grob gesprochen - vom authentischen Reisedokument (des 18.) zur literarischen Kunstform (des 19. Jhdts.) verschrieben. Zu verdeutlichen, "wie sich die beschreibende Reiseliteratur zu einer Literatur des Reisens wandelt" (S. 9) hat er sich vorgenommen. Eine leider etwas knapp geratene Einleitung (drei Druckseiten) stellt die wichtigsten Autoren als Vertreter einzelner Epochen und Strömungen vor. Bei Popp wird die Kutschenvergangenheit von Reisenden mit großen Namen beschworen, Goethe-Vater, Goethe, Knigge, Casanova, Eichendorff, Heine (um nur einige Beispiele zu nennen). Die Präsentation der Texte allerdings bleibt weit hinter dem zurück, was sie für sich genommen in Erwartung stellen.

Schon ein Blick auf die Überschriften der insgesamt sechs Kapitel macht deutlich, daß hier ein interessantes Thema verschenkt wurde: "Allgemeine Verkehrslage um 1860" / "Reisen mit Kutschwagen und Postkutsche" / "Kutscher fahr zu-" / "Reise als Abenteuer und andere Mißlichkeiten" / "Freud und Leid der Passagiere" / "Reiselust - Liebeslust". Der Prozeß literarischen Wandels, auf den Popp uns in seiner Einleitung so sorgfältig vorbereitet, verliert sich hier im Dickicht einer Ansammlung eher zufällig rubrizierter Reisemodalitäten. Daß das Landkutschenabenteuer Gellerts aus Kapitel V ("Freund und Leid") mühelos zu den "Mißlichkeiten" paßte, versteht sich; eigentlich aber umschreibt es einen Verkehrszustand vor Einführung der staatlichen Postkutschen, von denen bereits das zweite Kapitel handelt. Ganz zu schweigen von dem literarischen Wert des Gellertschen Exposés. Die willkürliche Grenzziehung zwischen den einzelnen, jeweils chronologisch gegliederten Kapiteln erschwert eine Standortbestimmung bei manchen Autoren. Bei einigen Texten aber bleiben Funktion und Bedeutung ganz und gar auf der Strecke. Zumal ohne Handreichungen läßt sich das Thema nicht zulänglich bewältigen.

Daß hier Texte zusammengebracht worden sind, die nicht immer für sich sprechen, ignoriert der Herausgeber fast ausnahmslos. Nach einer groben Skizzierung der damaligen Verkehrsverhältnisse, die dem Lektüreteil als Maßgabe dienen, sucht man vergebens. Ein schmales Glossar im Anhang des Bandes sorgt kaum für Abhilfe und enthält überdies terminologische Unschärfen: Diligence und Stellwagen sind keineswegs wagenbautechnische Entwicklungen (wie etwa "Berline" oder "Landauer"), sondern vielmehr verkehrsorganisatorische Einrichtungen. Wenig hilfreich schließlich auch die Datierung, mit der die Texte im Inhaltsverzeichnis versehen sind. Sie meint in einigen Fällen das Reisejahr (Nugent, Karamsin), in anderen das Jahr der Erstveröffentlichung der Reisebe Schreibung (Nicolai); unbegreiflich, was die Jahresangabe "1829" bei Ludwig Börnes "Monographie der deutschen Postschnecke" besagt (Popp beruft sich im Quellenverzeichnis auf eine Gesamtausgabe von 1844-1850). Zuerst erschienen ist die "Postschnecke" aber 1821, in der Wage, der von Börne besorgten "Zeitschrift für Bürgerleben, Wissenschaft und Kunst". Der sachkundige Leser jedenfalls stolpert über zahlreiche sachliche und chronologische Fehler.

Fazit: Eine Fleißarbeit, ein unterhaltsamer, wenngleich in seiner Präsentation häufig Verwirrung stiftender Anekdotenschatz, eine Blütenlese.

Bibliographie: Helmut Popp (Hrsg.): In der Kutsche durch Europa. Von der Lust und Last des Reisens im 18. und 19. Jahrhundert, hrsg. und mit einem Vorwort versehen. Nördlingen 1989.

Klaus Beyrer: Helmut Popp (Hrsg.): In der Kutsche durch Europa
In "Reisen und leben" Heft 19, S. 39-41.
(Holzminden: Ursula Hinrichsen; 1989)
ISSN 0936-627X


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